Die „Krankheit der 1000 Gesichter“ – so wird die MS oft beschrieben, erzählt Dr. Katrin Schuh im Pharma Fakten-Gespräch. Das soll heißen: Bei dieser chronisch-entzündlichen neurologischen Autoimmunerkrankung gibt es einen typischen Verlauf im Grunde nicht.
Dr. Katrin Schuh: Der Verlauf ist patientenindividuell, sehr heterogen; er lässt sich nicht voraussagen. Trotzdem lassen sich verschiedene Verlaufsformen identifizieren und abgrenzen. Die meisten Menschen mit MS haben eine schubförmig remittierende MS (RRMS), für 90 Prozent von ihnen ist das der Beginn der Erkrankung. Später geht sie nach etwa 10-15 Jahren bei vielen Patienten in eine sekundär progrediente MS (SPMS) über. Ein kleiner Teil der Patienten hat von Anfang an einen primär progedienten Verlauf (PPMS) – bei ihnen verschlechtert sich die Krankheit stetig, aber nicht in Schüben.
MS ist in unseren Breitengraden eine der häufigsten Ursachen für eine neurologische Funktionsstörung bzw. für eine anhaltende Behinderung bei jungen Erwachsenen. Weltweit sind es 2,8 Millionen Erkrankte, aber die sind nicht gleichmäßig verteilt, sagt die promovierte Apothekerin.
Schuh: Je weiter man vom Äquator wegkommt, desto mehr häufen sich die Fälle: Man vermutet, dass das mit der Vitamin-D-Exposition zu hat. In Deutschland sind es zwischen 250.000 und 280.000 Menschen, die an MS leiden. Jedes Jahr kommen rund 15.000 Neudiagnosen hinzu. Frauen erkranken doppelt so häufig wie Männer. Die meisten Erstdiagnosen finden zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr statt. Die Krankheit trifft die meisten Menschen in der Mitte ihres Lebens.
MS ist bis heute nicht heilbar, aber in den vergangenen 20 bis 25 Jahren hat sich im Bereich der Arzneimitteltherapien viel getan. Zum einen gibt es Medikamente, die die akuten Entzündungsreaktionen hemmen. Außerdem wurden so genannte immunmodulierende Therapien entwickelt, die das Fortschreiten aufhalten und damit die beschwerdefreie Zeit verlängern können. Und schließlich gibt es die symptomatische Therapie, die auf die Symptome der MS fokussiert. Sie will möglichen Komplikationen vorbeugen.
Schuh: In den vergangenen 20 bis 25 Jahren haben sich die zugelassenen Behandlungsoptionen vervielfacht. Die Behandler haben eine große Bandbreite zur Verfügung, um das Fortschreiten der Erkrankung deutlich zu reduzieren. Das gilt vor allem für die RRMS, aber es gibt mittlerweile Arzneimittel, die die anderen Verlaufsformen ebenfalls abdecken.
Um sich vorstellen zu können, wie das Krankheitsgeschehen im Körper der Menschen wirkt, verweist Dr. Katrin Schuh auf das Bild des Eisberges, von dem der weitaus größte Teil unter der Wasseroberfläche – also unsichtbar – ist (Pharma Fakten berichtete).
Schuh: 80 bis 90 Prozent der Erkrankungsaktivität und der neurologischen Schädigungen passieren, ohne dass die Betroffenen etwas davon merken. Ab Tag 1 der Erkrankung laufen im Gehirn schädigende Prozesse ab. Viele davon kann das Organ kompensieren, was aber nur heißt, dass die Patienten zunächst keine Symptome haben. Die Schäden durch die Entzündungsprozesse sind trotzdem da. Und in der Regel irreversibel.
Expert:innen haben das auf die Formel „Time is brain“ gebracht. Das bisher praktizierte Therapieschema der Eskalation, also dem Abwarten von sichtbarer Krankheitsaktivität vor einem Wechsel auf stärker wirksame Medikamente, wird zunehmend in Frage gestellt.
Die Zulassung von hochwirksamen Therapieoptionen mit verbessertem Sicherheits- und Wirksamkeitsprofil in den letzten Jahren mag ebenfalls zu dieser noch andauernden Trendwende beitragen.
Schuh: Je früher Schädigungen vermieden werden können, umso besser gelingt es, die Alltagskompetenzen zu erhalten. Zahlreiche Studien belegen, dass Patienten von dem frühen Einsatz hochwirksamer Therapien profitieren können. Auch bei der sekundär progredienten MS gibt es Therapiefortschritte. Aber es gibt Luft nach oben, denn die Diagnose wird oft spät gestellt. Und so verlieren die Patienten wertvolle Zeit.
Der Übergang zwischen den Krankheitsstadien RRMS und SPMS ist fließend und wird von den Betroffenen sehr unterschiedlich wahrgenommen. Bei Novartis wollte man deshalb wissen, wie Menschen mit MS ihre Krankheit wahrnehmen, wie sie im Alltag damit umgehen und wie stark sie beeinträchtigt sind. Daraus ist das Projekt MS Perspectives entstanden. Dazu wurde ein Online-Fragebogen entwickelt und in den sozialen Netzwerken beworben – mit durchschlagendem Erfolg: 4.555-mal wurde er ausgefüllt. Die Zahl belegt: Unter den Menschen mit MS gibt es großen Gesprächsbedarf. Ein Blick in die Daten zeigt auch: Die Kohorte ist ein Spiegel der Menschen mit MS in Deutschland. Sie ist repräsentativ.
Schuh: Das Ziel von MS Perspectives war es, die Sicht der Patienten zu hören und daraus vielleicht auch Rückschlüsse auf die Versorgung ziehen zu können. Wir wollten unter anderem wissen, welche Symptome in den vergangenen 12 Monaten schlechter geworden sind. Fast 89 Prozent der Befragten mit RRMS gaben an, dass sich ihre Symptome unabhängig von Schüben stark verschlechtert hatten. Das könnte ein Hinweis sein, dass sie bereits eine SPMS entwickelt haben oder im Übergang dazu sind.
Das zu wissen ist keine Nebensache – im Gegenteil. Denn die Erkrankungsstadien unterscheiden sich auch hinsichtlich der Krankheitsmechanismen und sind daher mit anderen therapeutischen Ansätzen besser adressierbar. Auch hier gibt es mittlerweile zugelassene Arzneimittel.
Doch noch eines war für Dr. Katrin Schuh überraschend:
Schuh: Nur rund 24 Prozent der RRMS-Patienten bekamen eine immunmodulierende Behandlung und 43 Prozent der SPMS-Patienten erhielten gar keine Therapie.
Nach dem Stand der Wissenschaft nehmen die Patient:innen damit in Kauf, dass ihre Erkrankung schneller fortschreitet, als sie müsste. Wenn sich Frau Schuh etwas wünschen dürfte, dann wäre es das:
Schuh: In der klinischen Praxis sollte man auf nicht oder weniger sichtbare Symptome wie Müdigkeit, kognitiver Verfall oder vegetative Funktionsstörungen achten. Wir lesen aus MS Perspectives heraus, dass diese Symptome und ihre Belastungen im Patientengespräch stärker abgefragt werden und in der Beurteilung der Krankheitsprogression Berücksichtigung finden sollten. Zur Verbesserung der Arzt-Patienten-Interaktion könnten beispielsweise MS Tagebücher und gezielte Fragebögen beitragen.
Das ist eine Voraussetzung, dass die Ärzt:innen fundiertere Entscheidungen treffen können, weil sie bessere Einsicht in den Alltag ihrer Patient:innen haben. Es würde die Qualität der Versorgung von Menschen mit MS deutlich steigern. Davon ist Dr. Katrin Schuh fest überzeugt.
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