
In Großbritannien? Zugelassen. In Japan? Zugelassen. In den USA und China? Auch zugelassen. In diesen Ländern können Menschen mit einer frühen, symptomatischen Alzheimer-Demenz schon seit vergangenem Jahr von dem monoklonalen Antikörper profitieren. Er hat in der Zulassungsstudie gezeigt, dass eine deutliche Verlangsamung der Krankheit möglich ist. Doch die Sorge der EMA galt den Nebenwirkungen: In 36,8 Prozent der Fälle kam es zu so genannten ARIA („Amyloid-Related Imaging Abnormalities“), so die EMA. Das sind Unregelmäßigkeiten, die sich auf MRT-Bildern feststellen lassen und z.B. auf Hirnschwellungen zurückgehen. In 1,6 Prozent der Fälle handelte es sich um schwerwiegende Ereignisse, die in drei Fällen zum Tode führten. Deshalb die Entscheidung aus Amsterdam: Keine Zulassung. Der Grund: Ein ungünstiges Wirkungs-Nebenwirkungsprofil.
Alzheimer: Das Fortschreiten verlangsamen
Die Expert:innen bei der DGN – immerhin eine der angesehensten neurologischen Fachgesellschaften weltweit – können die Entscheidung „nur bedingt nachvollziehen“. Sie hätten eine Zulassung befürwortet, bei der Patientengruppen mit einem hohen Risikoprofil für schwere Nebenwirkungen ausgeschlossen werden, die aber für alle anderen Betroffenen die Möglichkeit eröffnet hätte, sich nach individueller Nutzen-Risiko-Abwägung für oder gegen die Therapie zu entscheiden. Nein, Wundermittel seien die Amyloid-Antikörper nicht, so Prof. Dr. Jörg B. Schulz, Sprecher der Kommission Demenz und Kognitive Störungen der DGN; sie hätten auch keine heilende Wirkung. Aber: „Sie können die Progression bei richtiger Patientenauswahl um über 30 Prozent verlangsamen. Das kann für viele Menschen mit neu diagnostizierter Alzheimer-Erkrankung ein Gewinn an vielen Monaten ‚gesunder‘ Lebenszeit bedeuten.“

Die Nebenwirkungen will die DGN nicht herunterspielen, hält sie aber für handhabbar. Ihr Generalsekretär Prof. Dr. Peter Berlit erklärte: „Wir bedauern, dass die EMA das Medikament nicht mit entsprechenden Zulassungsbeschränkungen und verpflichtender Nutzen-Risiko-Aufklärung zugelassen hat. Insbesondere ApoE4-negative Patientinnen und Patienten mit geringen Tau-Ablagerungen könnten nach den Studiendaten von einer Behandlung mit Donanemab deutlich profitieren; die EMA hätte die Zulassung entsprechend anpassen können.“ Zumal, so Professor Schulz, andere Patient:innengruppen beispielsweise in der Krebstherapie höhere Risiken mit Medikamenten, die von der EMA zugelassen sind, in Kauf nehmen müssten. „Sie haben aber die Wahl, sich nach einer umfassenden Aufklärung über Nutzen und Risiken individuell für oder gegen die Therapie zu entscheiden. Diese Möglichkeit wird Alzheimer-Patientinnen und -Patienten nicht gegeben.“ Die DGN beklagt, dass eine ganze „Generation“ an Patient:innen mit beginnender Alzheimer-Erkrankung, die Möglichkeit verlieren, von diesem Medikament zu profitieren.
Nur medikamentös beherrschbar: Der
Alzheimer-Tsunami
Auch angesichts des medizinischen Bedarfs, der bei der Behandlung von Alzheimer besteht, verwundert die EMA-Entscheidung. Alle drei Sekunden entwickelt irgendwo auf der Welt ein Mensch eine Demenz; die meisten von ihnen sind Alzheimer-Patient:innen. Und auch in Deutschland sind die Prognosen düster (s. Grafik). Die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft rechnet bis zum Jahr 2050 mit bis zu 2,7 Millionen Demenzkranken, wenn kein Durchbruch in Prävention und Therapie gelingt. Tatsache ist: Der Tsunami, der auf Länder wie Deutschland zurollt, wird sich nur beherrschen lassen, wenn neue Medikamente entwickelt und verfügbar gemacht werden. Die DGN sieht durch die EMA-Entscheidung deshalb die europäische Alzheimerforschung geschwächt. Noch einmal Professor Berlit: „Andere Länder können ‚Real-Life‘-Erhebungen durchführen, und natürlich überlegen sich Unternehmen, ob sie bei uns in die Forschung investieren und in Europa Studien durchführen, wenn die Chance auf Zulassung eines Medikaments deutlich geringer als in anderen Regionen der Welt ist.“
Entwickelt wurde der Antikörper vom forschenden Pharmaunternehmen Lilly. Das Unternehmen forscht seit 35 Jahren an Medikamenten gegen die Demenzerkrankung. Auch ihr Präsident Illya Yuffa befürchtet, dass Europa im internationalen Vergleich den Anschluss verliert: „Der europäische Zulassungsprozess dauert etwa 120 Tage länger als in den USA und Japan. In Verbindung mit komplexen Systemen zur Markteinführung auf Ebene der Einzelstaaten führen diese Verzögerungen dazu, dass Patient:innen in Europa durchschnittlich 20 Monate länger warten müssen als Menschen in den USA, um von wissenschaftlichen Innovationen zu profitieren.“
Morbus Alzheimer: „Millionen Menschen werden weiter warten müssen“

Ein weiterer Antikörper gegen Alzheimer – der Wirkstoff Lecanemab – wird von der EMA „seit erstaunlichen 26 Monaten“ geprüft, wie Yuffa schreibt. „Im Gegensatz dazu schlossen die Zulassungsbehörden in Japan ihre Prüfung innerhalb von acht Monaten ab, während China und die USA jeweils etwa 13 Monate brauchten, um eine vollständige Marktzulassung für dasselbe Medikament zu erteilen.“ Im Falle des Lilly-Wirkstoffes Donanemab kam man in Europa 20 Monate nach der Einreichung des Antrags zu der Entscheidung, es überhaupt nicht zuzulassen – obwohl die Zulassungsbehörden in zehn anderen Ländern dies bereits getan haben. „Millionen Menschen in Europa, die unter dieser unaufhaltsamen und tödlichen Krankheit leiden, werden weiter warten müssen“ so Yuffa. Und ergänzt: „Wenn Arzneimittel klinisch bedeutsame Wirkungen zeigen und ein gut charakterisiertes, kontrollierbares und überwachbares Sicherheitsprofil aufweisen, sollten die EU-Zulassungsbehörden Ärzt:innen und Patient:innen in die Lage versetzen, selbst zu entscheiden, ob diese Arzneimittel die richtige Wahl für sie sind.“
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