
Es ist viel passiert: Seit dem Jahr 2000 wurden rund 240 Orphan Drugs in Europa zugelassen. Hinzu kommen weitere Präparate gegen seltene Erkrankungen, die keinen offiziellen Orphan Drug-Status erhalten haben. Der Fortschritt ist groß – und trotzdem stehen für circa 95 Prozent der bekannten rund 8.000 „rare diseases“ keine zugelassenen Therapien zur Verfügung. Die Sache ist die: Wenn die Forschung und Entwicklung (F&E) in dem Tempo weiterläuft wie bisher, würde es noch mehr als hundert Jahre dauern, bis es für alle von ihnen Arzneimittel gibt. Zum Beispiel bei seltenen Lebererkrankungen ist der Bedarf groß, sagt Mediziner PD Dr. Dr. Ekkehard Sturm. Hier brauche es dringend wirksame Therapien, „die möglicherweise eine Organtransplantation vermeiden können“. Doch selbst wenn solche Innovationen zur Verfügung stehen, heißt das nicht automatisch, dass alle Patient:innen optimal versorgt werden – das Gesundheitssystem ist komplex.
Das Biopharmaunternehmen IPSEN hatte daher im vergangenen Jahr mit verschiedenen Fachleuten über Hürden bei Forschung, Zulassung, Erstattung sowie im Gesundheitssystem insgesamt gesprochen – und die Erkenntnisse in ein Whitepaper gegossen. Neben den unterschiedlichen Perspektiven und Beiträgen einzelner Expert:innen enthält es konkrete Handlungsempfehlungen.
Orphan Drugs: Forschung fördern, Versorgung optimieren
Die europäische Förderung von Investitionen in die Erforschung und Entwicklung neuer Behandlungsansätze sollte demnach nicht nur erhalten, sondern noch gestärkt werden.

Bislang ist der sogenannte Orphan Drug-Status – den die EU-Kommission unter strengen Voraussetzungen vergibt, um wirtschaftliche Anreize für die F&E bei besonders seltenen, schweren Erkrankungen zu setzen – an das jeweilige Produkt gekoppelt. Das hat folgende Konsequenz: Erhält ein Arzneimittel, das als Orphan Drug bei einer seltenen Erkrankung zum Einsatz kommt, nach weiterer Forschung eine Zulassung in einer zusätzlichen Indikation, in der es nicht als Orphan Drug gilt, wird dieser Status komplett entzogen. Anders ist das in den USA – denn dort erfolgt die Vergabe des Orphan Drug-Status´ indikationsspezifisch. Die europäische Praxis „nimmt pharmazeutischen Herstellern nicht nur Planungssicherheit“, schreiben Dr. Sybill Hessler und Dr. Andreas Eitel von Ipsen im Whitepaper. Sie könne auch dazu führen, dass das betroffene Arzneimittel nicht oder verspätet auf den deutschen Markt gebracht wird. Denn wenn es kein offizielles Orphan Drug mehr ist, muss es nach anderen Regeln das hiesige Verfahren der Nutzenbewertung und Preisverhandlung („AMNOG“) durchlaufen.
Das AMNOG ist in seinen methodischen Anforderungen nicht gut an spezielle Therapiesituationen wie seltene Erkrankungen angepasst – das muss sich ändern. Hessler und Eitel erklären: „Oft können keine randomisiert kontrollierten Studien (RCT) mit großen Probandenzahlen und mehreren Therapiearmen durchgeführt werden. In vielen Fällen existiert auch keine zweckmäßige Vergleichstherapie (zVT), anhand derer der Zusatznutzen belegt werden könnte.“ Doch ein negatives Bewertungsergebnis kann zu einem starken Preisverfall führen. Kann eine Firma für ihre Innovationen keine nutzenadäquate und wirtschaftliche Preise erzielen, ist es auf Dauer unmöglich, weiter an neuen Therapien für die Patient:innen zu forschen. Daher bedarf es „einer höheren Anerkennung bestverfügbarer Evidenz und alternativer Studiendesigns“, heißt es seitens Ipsen. Das AMNOG hat eine Reform nötig.

Deutliche Kritik übt das Biopharmaunternehmen am GKV-Finanzstabilisierungsgesetz von 2022: Nicht nur weil es Innovationen in vielen Fällen nicht angemessen honoriert; seitdem werden Orphan Drugs ab einer Umsatzschwelle von 30 Millionen Euro im AMNOG wie alle anderen Arzneimittel behandelt – vorher lag die Grenze bei 50 Millionen Euro. Gesundheitsökonom Prof. Dr. Jürgen Wasem konstatiert im Whitepaper, dass „die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Durchführung einer randomisierten Kontrollstudie nicht vom Umsatz eines Medikaments“ abhänge. Soll sagen: Die in vielen Fällen herausfordernde Evidenzlage ändert sich nicht. Auch er plädiert dazu, „besondere Evidenzsituationen“ adäquat zu berücksichtigen – in seinen Augen wäre es vorstellbar, im AMNOG eine Ermessensentscheidung zu implementieren, „ob eine RCT angemessen oder überhaupt durchführbar ist“, und damit einhergehend ggf. größere Spielräume bei den Evidenzanforderungen zu öffnen. Letztlich muss es laut Ipsen das Ziel sein, der gesellschaftlich intendierten Förderung von Orphan Drugs im AMNOG gerecht zu werden und „langfristig sicherzustellen“, dass sie für die Patient:innen hierzulande „schnell und umfassend zur Verfügung stehen.“
Mehr Forschung – mit mehr Patient:innenbeteiligung

Dazu gehört, dass klinische Studien hierzulande beschleunigt werden – bürokratische Hürden und lange Genehmigungsverfahren verhindern das bislang. Da setzt das neue Medizinforschungsgesetz an, doch ausreichen wird das nicht: So bleibe etwa die „gerade bei seltenen Erkrankungen erschwerte Rekrutierung geeigneter Patient*innen“ unberücksichtigt, schreibt Mediziner und Forscher Prof. Dr. Oliver Cornely. Derzeit werden seltene Erkrankungen in Deutschland ungenügend erfasst – daher wäre es wichtig eine qualitativ hochwertige Registerinfrastruktur aufzubauen. Darüber ließen sich zum Beispiel versorgungsnahe und epidemiologische Daten sammeln. Und: „Die von ihren Ärzt*innen erfassten Patient*innen könnten automatisch über klinische Studien informiert oder ggf. auch proaktiv kontaktiert werden“.
Zudem weiß Ärztin Prof. Dr. Annette Grüters-Kieslich: „Menschen mit seltenen Erkrankungen sind oft die besten Expert*innen ihrer eigenen Krankheitsbilder. Die Entwicklung neuer Therapien könnte erheblich profitieren, wenn die Erfahrungen dieser Patient*innen stärker in das Studiendesign einfließen würden.“ Betroffene müssten „umfassend“ in den gesamten F&E-Prozess eingebunden sein. Hierzu bedarf es verstärkter Aufklärungsarbeit und verständlicher Informationsangebote. Auch über Studien hinaus sollten Patient:innen mehr im Gesundheitswesen beteiligt werden – etwa in der Selbstverwaltung.
Seltene Erkrankungen: Versorgungsstrukturen ausbauen

Der Spezialist für Lebererkrankungen PD Dr. Dr. Ekkehard Sturm betont: Ärztinnen und Ärzten „muss es ermöglicht werden, eine qualitativ hochwertige Versorgung für Menschen mit seltenen Erkrankungen anbieten zu können. Hierzu braucht es, neben innovativen Therapien, vor allem flächendeckende Strukturen, die eine schnelle Diagnose und interdisziplinäre Versorgung ermöglichen“. Vor allem ist mehr Vernetzung, mehr Digitalisierung gefragt.
An Deutschlands Unikliniken existieren mehr als 30 spezialisierte Zentren für seltene Erkrankungen. Hauptsächlich sind es sogenannte A-Zentren als Anlaufstelle für die Diagnose „sowie zumeist direkt anhängige B-Zentren, zur Abbildung der krankheits- und fachgruppenspezifischen Behandlung im ambulanten und stationären Bereich.“ Zur Sicherstellung einer qualitätsgesicherten, wohnortnahen Versorgung fehle „es hingegen noch an praxistauglichen Konzepten für Typ C-Zentren – kooperierende Spezialambulanzen, die an Schwerpunktpraxen, medizinischen Versorgungszentren oder Krankenhäusern angesiedelt sind“, berichtet der Mediziner. All diese Zentren müssten stärker miteinander sowie mit den niedergelassenen Ärzt:innen vernetzt sein. Doch er findet: „Die aktuellen Kommunikationswege im Gesundheitswesen sind veraltet und ineffizient“ – er drängt auf moderne Technologien wie Telemedizin und elektronische Patientenakte.
Seltene Erkrankungen: Gesellschaftlicher Dialog notwendig

Dr. Georg Kippels, CDU/CSU-Bundestagsabgeordneter und Mitglied im Ausschuss für Gesundheit, ist sich sicher: „Ein grundlegender gesellschaftlicher Dialog und ein Zusammenführen unterschiedlicher Impulse ist unerlässlich, um die Gesundheitsversorgung für Menschen mit seltenen Erkrankungen neu zu gestalten. Patient*innenverbände, medizinische Fachkräfte, politische Entscheidungsträger*innen, die pharmazeutische Industrie und Forschungseinrichtungen sollten bei der Findung zukunftsweisender Lösungen gezielt mit einbezogen werden.“ Auch beim Unternehmen Ipsen glaubt man daran, dass solche Dialoge dazu beitragen können, „eine nachhaltige und patient*innenorientierte Versorgung zu gewährleisten und den Zugang zu wichtigen Therapien für seltene Erkrankungen zu verbessern.“
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