CAR-T-Zelltherapien sind echte Durchbruchsinnovationen: In der Regel kommen sie bei seltenen Erkrankungen zum Einsatz – und zum Teil können sie Hoffnung auf Heilung geben; und das bei Menschen mit Krebs, die ohne diese Behandlungsform wahrscheinlich nach wenigen Monaten verstorben wären. Umso unverständlicher ist, wenn der Zusatznutzen von Vertretern dieser Arzneimittelklasse in einigen Indikationen als nicht belegt eingeschätzt wird – die von den Herstellerfirmen vorgelegten Studiendaten sind nach Auffassung von dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) nicht geeignet. Am liebsten hätten sie Daten aus Vergleichen gegenüber anderen Standardtherapien.
Klar – ein Mehr an Daten wäre immer schön. Doch die klassischen, randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) stoßen im Bereich schwerer und seltener Erkrankungen oft an Grenzen – sei es aufgrund der wenigen Proband:innen oder aufgrund ethischer Überlegungen. Für Prof. Dr. Bertram Glaß, Chefarzt für Hämatologie und Zelltherapie am Helios Klinikum Berlin-Buch, steht fest: „Komparative Studien mit CAR-T-Zell-Therapien […] und den klassischen Immun-Chemotherapien wird es auch in Zukunft nicht geben, weil solche Studien von keiner Ethikkommission akzeptiert werden würden. Sie können kurative Therapien mit einem Potenzial von 30 bis 40 Prozent Langzeitüberleben nicht in Beziehung zu Therapien setzen, bei denen bisher eben kein Langzeitüberleben darstellbar war“. In seinen Augen muss man sich daher „mit dem an Evidenz begnügen, was jetzt zur Verfügung steht.“ Was wäre auch die Alternative? Schwerkranken Patient:innen eine Behandlung mit Heilungspotenzial vorenthalten, um Daten mit einer Vergleichsgruppe generieren zu können? Wohl eher nicht.
Tatsache ist: Die Nutzenbewertungen des G-BA haben Auswirkungen auf die Preisverhandlungen mit den Krankenkassen („AMNOG-Verfahren“). Es droht die Gefahr, dass „Erstattungsbeträge zustande kommen, die unterhalb des nutzenadäquaten Niveaus liegen mit daraus folgenden Risiken für die Patientinnen- und Patientenversorgung und die Innovationsanreize“, schreibt die Arbeitsgemeinschaft Therapie Seltene Erkrankungen (ATSE) in einer Stellungnahme. Soll heißen: Die Firmen könnten im schlimmsten Fall aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen sein, ihre Präparate vom Markt zu nehmen – denn wertorientierte Preise sind die Voraussetzung dafür, dass sie die Ausgaben für die Erforschung und Entwicklung weiterer innovativer Therapien dauerhaft aufbringen können. Leidtragende sind die Patient:innen von heute und morgen.
„Die besonderen Herausforderungen bei der Evidenzgenerierung für Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen erfordern unweigerlich eine angepasste Bewertungsmethodik“, unterstreicht die ATSE, hinter der die Firmen Alexion, BioMarin, Bristol Myers Squibb, Chiesi, Ipsen, Takeda, UCB und Vertex stehen.
Nutzen von Orphan Drugs: Europaweit bestätigt – in Deutschland angezweifelt
Das IQWiG jedoch fordert das genaue Gegenteil: Es findet, dass „Orphan Drugs eine reguläre Nutzenbewertung durchlaufen können und sollten – und zwar alle“, so Thomas Kaiser, Leiter des Instituts. Zum Hintergrund: Auch Orphan Drugs durchlaufen in Deutschland das sogenannte AMNOG-Verfahren – es gilt allerdings die Regel, dass ihr Zusatznutzen bis zu einer bestimmten Umsatzschwelle als belegt gilt. Denn schließlich ist die Vergabe des Orphan-Status´ durch die europäische Zulassungsbehörde EMA bereits an den Nachweis eines Zusatznutzens gebunden. IQWiG und G-BA müssen daher nur das Ausmaß des Zusatznutzens bewerten – das vermeidet Doppelarbeit.
Mit dem Ende 2022 in Kraft getretenen GKV-Finanzstabilisierungsgesetz wurde besagte Umsatzschwelle bereits von 50 Millionen Euro auf 30 Millionen Euro gesenkt. Schon das hat negative Folgen – siehe etwa Midostaurin, ein Wirkstoff, der für die akute myeloische Leukämie mit einer bestimmten Genmutation (FLT3-Mutation) zugelassen ist. Nach Überschreitung der Umsatzschwelle von 30 Millionen Euro wurde er (erneut) vom G-BA bewertet – es wurde kein Zusatznutzen vergeben. Dabei sagt selbst Prof. Josef Hecken, unparteiischer Vorsitzender des G-BA: „Aus aktuellen Leitlinienempfehlungen und der Stellungnahme der medizinischen Fachgesellschaft geht eindeutig hervor, dass Midostaurin kombiniert mit einer Chemotherapie den aktuellen Therapiestandard bei der akuten myeloischen Leukämie mit FLT3-Mutation darstellt. Dieser hohe aktuelle Stellenwert in der klinischen Versorgung kann bei der erneuten Bewertung des Zusatznutzens bedauerlicherweise nicht abgebildet werden.“ Die ATSE fasst das so zusammen: „Der G-BA sieht sich also nicht in der Lage, einem Präparat, welches er selbst als Therapiestandard ansieht und dass daher logisch einen Zusatznutzen haben muss, einen Zusatznutzen nach seiner Bewertungsmethodik zu gewähren.“ Dieser Widerspruch zeigt die Grenzen des starren AMNOG-Verfahrens – und dass sich damit im Zweifel „der `echte´ Zusatznutzen nicht abbilden lässt.“
Das wird auch bei einer ersten zielgerichteten Therapie zur Behandlung eines systemischen, potenziell lebensbedrohlichen Hautleidens deutlich. International wurde das Medikament – das bei einer seltenen Erkrankung zum Einsatz kommt, aber keinen Orphan Drug-Status hat – „mehrfach als besondere Innovation ausgezeichnet, ist u.a. in den USA, China und der EU zugelassen und stellt für die betroffenen Patientinnen und Patienten einen bedeutenden Therapiedurchbruch dar“, erklärt die ATSE. Der G-BA hat jedoch keinen Zusatznutzen anerkannt. Als Konsequenz hat die Herstellerfirma sich entschieden, das Arzneimittel vom deutschen Markt nehmen. Vor allem für neuartige Therapien und im Bereich seltener Erkrankungen braucht es im Nutzenbewertungsprozess mehr Spielraum und Flexibilität, damit es nicht zur kategorischen Ablehnung verfügbarer Evidenz kommt, findet das Unternehmen.
Seltene Erkrankungen: Mehr Forschung, mehr Orphan Drugs benötigt
Da stimmt die ATSE zu – gerade mit Blick auf Orphan Drugs will sie, dass die Bewertungsmethodik flexibler gestaltet und die Umsatzschwelle wieder auf 50 Millionen Euro angehoben wird. „Orphan Drugs sind immer für Erkrankungen bestimmt, die lebensbedrohend sind oder zu einer chronischen Invalidität führen“, betont die Arbeitsgemeinschaft. Wenn der Zusatznutzen einer solchen Therapie aus methodischen Gründen nicht erkannt und honoriert wird und diese Therapie in Folge nicht mehr in der Versorgung zu finden ist, kann das für „Betroffene mit sehr negativen z.T. existenziellen Folgen verbunden“ sein.
So oder so gehen Forderungen nach einer Abschaffung der bewährten Orphan Drug-Regelung im AMNOG an der Versorgungsrealität der Patient:innen vorbei: Denn trotz aller Fortschritte gibt es für weniger als 10 Prozent der seltenen Erkrankungen zugelassene Therapien. Forschung und Entwicklung erweisen sich hier als besonders herausfordernd – aus wissenschaftlicher, aus ethischer sowie aus wirtschaftlicher Sicht. „Für diesen Bereich braucht es nicht mehr (Zugangs-)Hürden, sondern mehr Förderung“, appelliert die ATSE.
Weiterführender Link:
ATSE-Stellungnahme zum Bericht des IQWiG zu der „Preis- und Kostenentwicklung von Orphan Drugs“
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