Der G-BA sieht bei einem Medikament für sehr seltene Epilepsie-Erkrankungen einen Zusatznutzen nicht belegt. Die medizinische Fachwelt wundert sich. Foto: ©iStock.com/BeritK
Der G-BA sieht bei einem Medikament für sehr seltene Epilepsie-Erkrankungen einen Zusatznutzen nicht belegt. Die medizinische Fachwelt wundert sich. Foto: ©iStock.com/BeritK

Epilepsie-Medikament ohne Zusatznutzen? Fortschritt zerschellt an Methode

Der Gemeinsame Bundesausschuss sieht bei einem Medikament für sehr seltene Epilepsie-Erkrankungen einen Zusatznutzen nicht belegt. Die medizinische Fachwelt wundert sich. Bei der Anhörung zu diesem Orphan Drug zeigen sich die Grenzen der AMNOG-Methodik: Sie kann medizinischen Fortschritt ausbremsen. „Wir brauchen diese Substanz“, sagt Professor Dr. Gerhard Kurlemann vom Bonifatius Hospital in Lingen.
Epilepsie-Medikament ohne Zusatznutzen? Fortschritt zerschellt an Methode
Epilepsie-Medikament: Zusatznutzen – nicht belegt? Foto: ©iStock.com/ipopba

Wortprotokolle sind nicht der Traum eines Lese-Gourmets – gerade, wenn sie 21 eng bedruckte Seiten lang sind. Aber manchmal haben sie es in sich: So wie das Protokoll für die Zusatznutzenbewertung des Epilepsie -Medikaments Epidyolex. Es ist die Abschrift einer Anhörung im Rahmen des AMNOG-Verfahrens, bei dem der Gemeinsame Bundesausschuss G-BA unter anderem Entwickler und Hersteller von Arzneimitteln und deren Verbände, Expert:innen und medizinische Fachgesellschaften der jeweiligen Indikationen, das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und den Spitzenverband der Krankenkassen anhört, um eine Entscheidung über den Zusatznutzen von Arzneimitteln gegenüber bestehenden Therapien zu treffen. Der Grad des Zusatznutzens ist Grundlage für die Verhandlungen des Erstattungspreises, den der Hersteller gegenüber den Krankenkassen erheben kann.

Das Arzneimittel war bereits im Jahr 2020 bewertet worden; damals bekam es einen „beträchtlichen Zusatznutzen“ zugewiesen. Nun musste es wieder „zum TÜV“, weil es die Umsatzschwelle von 30 Millionen Euro überschritten hatte. Diesmal sah der G-BA nur ein: Zusatznutzen – nicht belegt. Die vom Hersteller „vorgelegten Daten für die Bewertung des Zusatznutzens waren nicht geeignet, da diese keine Optimierung der antiepileptischen Behandlung vorsahen“, so die Begründung.

AMNOG: Spezialfall Orphan Drug

Wie bei allen anderen neu eingeführten Arzneimitteln müssen sich auch die so genannten Orphan Drugs dem AMNOG-Verfahren unterziehen; sprich: der Hersteller muss ein Dossier einreichen, das Angaben zum Medikament und seinem Nutzen enthält. Es gibt allerdings eine Spezialität: Da die Vergabe des Orphan-Status durch die Zulassungsbehörde EMA an den Nachweis eines Zusatznutzens gebunden ist, kann sich das einreichende Unternehmen bei der Frage des Zusatznutzens auf die Bewertung im Rahmen der Zulassung berufen. Die Quantifizierung des Zusatznutzens nimmt der G-BA selbst vor; das IQWiG wird nicht gefragt. All das ändert sich, wenn der Jahresumsatz des Medikaments die 30-Millionen-Euro-Schwelle knackt – dann wird es rein rechtlich zu einem „normalen“ Arzneimittel.

Epilepsie: „Hunderte Anfälle im Monat“

Epilepsie: „Hunderte Anfälle im Monat“
Seltene Epilepsien: Beginnen bereits in der frühen Kindheit. Foto: ©iStock.com/SeventyFour

Bei dem Medikament handelt es sich um eine Substanz auf Cannabis-Basis (Cannabidiol). Es ist zugelassen im Zusammenhang mit dem Dravet-Syndrom, dem Lennox-Gastaut-Syndrom (LGS) und der Tuberösen Sklerose (TSC). Dabei handelt es sich „um seltene, schwerwiegende Epilepsien“, wie Melanie Tattersall, Chefin von Jazz Pharmaceuticals in Deutschland in der Anhörung erklärt hat, „die bereits in der frühen Kindheit beginnen. Die Patienten erleiden zum Teil hunderte von Anfällen pro Monat.“ Die Krankheitsbilder haben gemeinsam, dass sie schwer zu behandeln sind. Bei Jazz Pharmaceuticals ist man davon überzeugt: „Epidyolex hat sich aufgrund seiner hohen Wirksamkeit und guten Verträglichkeit als Standard in der Versorgung etabliert und ist daher auch Teil der Leitlinien. Das Präparat stellt insbesondere für Kinder eine sehr wertvolle Therapieoption dar.“ In den Studien, die das Unternehmen durchgeführt hat, waren mehr als 80 Prozent der Patient:innen pharmakoresistent. Das bedeutet, so Tattersall, „dass keine Therapieoptimierung mehr möglich war.“

Epilepsie-Präparat: „Sehr wichtig“ und „gut zu händeln“

Wer sich durch die Statements der Mediziner:innen während der Anhörung durcharbeitet, findet zu dem Präparat folgende Aussagen:

  • „Das Cannabidiol ist ein Medikament, das für die Behandlung von Patienten mit medikamentenrefraktären Epilepsien sehr wichtig ist, bei denen wir häufig mehrere Medikamente kombinieren müssen.“ (Prof. Dr. Angela Kaindl, Charité).
  • „Unter den genannten Wirkstoffen, die als zweckmäßige Vergleichstherapie in Frage kommen, ist mir aus meiner […] Erfahrung – keine bekannt, die den zusätzlichen Aspekt, die Lebensqualität und damit das enzephalopathische Bild bei diesen Patienten so positiv beeinflusst, wie es das Präparat tut, über das wir hier sprechen.“ (Prof. Dr. von Podewils, Universitätsmedizin Greifswald).
  • „Das ist für uns ein Präparat, das in jeder Altersklasse hervorragend zu händeln ist. Wir können das gut steuern und die Eltern gut über milde Nebenwirkungen aufklären. Wir brauchen diese Substanz, weil die anderen Substanzen im Vorfeld alle schon eingesetzt worden sind, gerade für Dravet- und TSC-Kinder, für LGS-Kinder sowieso.“ (Prof. Dr. Gerhard Kurlemann, Bonifatius Hospital, Lingen).
  • „Er [der Patient] soll möglichst wenige Sturzanfälle haben, und die Lebensqualität, also die Verträglichkeit, soll gut sein. Deshalb sind wir froh um dieses Medikament Epidyolex, das uns mit seiner Wirksamkeit gut hilft. […]. Wir sind in dieser Gruppe von schwer zu behandelnden Patienten sehr froh um diesen Wirkstoff, der uns das Angebot in der Behandlung sehr verbreitert hat.“ (Dr. Thomas Mayer, Epilepsie-Zentrum Kleinwachau).

Menschen mit Epilepsie: „Verzweifelte Zustände“

Menschen mit Epilepsie: „Verzweifelte Zustände“
Epilepsie: Anfälle mit Verletzungsfolgen. Foto: ©iStock.com/Madrolly

Stimmen aus der medizinischen Versorgung: Das klingt wenig nach einem „nicht belegten Zusatznutzen“. In der Welt der Menschen, die Patient:innen mit diesen epileptischen Erkrankungen behandeln, ist das Medikament längst angekommen, in der die Therapiesituation alles andere als rosig ist. „Es sind manchmal wirklich verzweifelte Zustände, die wir mit diesen Patienten und Patientinnen auch gerade im Erwachsenenalter haben, wo zig Anfälle pro Tag auffallen, wo es viele Anfälle mit Verletzungsfolgen gibt, wo gerade beim Dravet-Syndrom die Übersterblichkeit sehr hoch ist und die sich als äußerst refraktär erweisen“, erklärt Professor Dr. Hajo Hamer von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). „Wir versuchen“, so Dr. Mayer, „meistens in Kombinationsbehandlung das Ausmaß des Dilemmas zu verwalten.“

Der Beschluss des G-BA bedeutet zunächst nicht, dass das Medikament nicht weiter zur Verfügung steht. Es ist in Europa zugelassen, ein Nutzen ist damit amtlich beglaubigt. Im AMNOG-Verfahren geht es um den Grad des Zusatznutzens gegenüber der im Verfahren festgelegten „zweckmäßigen Vergleichstherapie“ (zVT). Aber: Ein angeblich nicht belegter Zusatznutzen hat trotzdem Folgen. Je geringer der anerkannte Zusatznutzen, desto schwerer der Stand des pharmazeutischen Unternehmers in den sich anschließenden Verhandlungen des Erstattungspreises, den die Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) bezahlen müssen. Weitere mögliche Folgen sind:

  • Ärzte könnten es seltener einsetzen, obwohl der Nutzen für die kranken Menschen offenbar vorhanden ist.
  • Die Forschungsanreize sinken, da keine nutzenadäquaten Preise erzielt werden können.
  • In letzter Konsequenz könnte das heißen: Das Präparat wird wieder vom Markt genommen.
  • Eine mögliche weitere Signalwirkung: Ähnliche Präparate in dieser oder in ähnlichen Indikationen werden in Deutschland gar nicht mehr eingeführt.

Das AMNOG-Dilemma

Das AMNOG-Dilemma
Das AMNOG kommt an seine Grenzen. Foto: ©iStock.com/yavdat

Das Beispiel zeigt das Dilemma, in dem das AMNOG steckt: Denn nach den Regeln, die sich die Organe wie das IQWiG und der G-BA gegeben haben, werden die vorgelegten Daten nicht akzeptiert – es ist eine Methodendiskussion. Noch einmal Widerspruch vom Hersteller: „Die Ablehnung der vorgelegten soliden Studiendaten ist methodisch nicht sachgerecht und berücksichtigt weder die Wirksamkeit von Epidyolex bei pharmakoresistenten Patienten, noch wird sie der Schwere der Erkrankung dieser betroffenen Patienten gerecht“, gibt Tattersall zu Bedenken.

Im Zweifel bleiben genau die auf der Strecke. Denn das ANMOG, das sich in den vergangenen Jahren weitgehend etabliert hat, kommt in besonderen Therapiesituationen wie diesen offenbar an seine Grenzen. Oder wie soll man das nennen, wenn die Medizin ein Präparat für gut und wichtig befindet, aber das Gesundheitssystem damit offenbar wenig anfangen kann?

Weiterführende Links:

DRAVET-Syndrom e.V.

Tuberöse Sklerose Deutschland e.V.

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