„Eine innovative Pharma-Industrie ist Grundlage des medizinischen Fortschritts“ – der Gewerkschafter Francesco Grioli erklärt im Interview, warum das keine Selbstverständlichkeit ist. Foto: ©iStock.com/gorodenkoff
„Eine innovative Pharma-Industrie ist Grundlage des medizinischen Fortschritts“ – der Gewerkschafter Francesco Grioli erklärt im Interview, warum das keine Selbstverständlichkeit ist. Foto: ©iStock.com/gorodenkoff

Pharmabranche: „Es braucht mehr Airbus-Momente“

Die Pharma-Industrie zählt zu den stärksten Branchen in Deutschland – weshalb das so ist und was getan werden muss, um langfristig erfolgreich zu sein, darüber haben wir mit Francesco Grioli gesprochen, Mitglied des geschäftsführenden Hauptvorstands der IGBCE (Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie).
Gewerkschafter Francesco Grioli
Gewerkschafter Francesco Grioli. Foto: ©Stefan Koch

Herr Grioli, Sie haben kürzlich gesagt, die Pharmaindustrie gehöre zu den „am besten aufgestellten Branchen in Deutschland“ in Bezug auf die Arbeitsbedingungen. Woran machen Sie das fest?

Francesco Grioli: Es ist uns gelungen, zusammen mit den Arbeitgebern an vielen Standorten für gute Ausbildungs- und Arbeitsplätze zu sorgen. Dort, wo Sozialpartnerschaft gelebt wird, begegnen wir dem Fachkräftemangel, indem wir aktiv aus- und weiterbilden, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf voranbringen sowie Frauen gezielt für die Übernahme von Führungspositionen vorbereiten. Wir setzen uns für eine kulturell diverse Belegschaft ein – durch gezielte Anwerbung von internationalen Fachkräften und eine integrative Willkommenskultur.

Was macht die Pharmabranche besser als andere Branchen – und wo sehen Sie Nachholbedarf?

Grioli: Die Pharmaindustrie ist innovationsstark und weitgehend unabhängig von konjunkturellen Schwankungen. Blickt man auf aktuelle Konjunkturindizes, sind Lage und Stimmung derzeit in keiner deutschen Industrie besser. Gleichzeitig profitiert die Branche von einer gefestigten Sozialpartnerschaft und hohen Tarifbindung. Das sind Garanten für Planungssicherheit, wirtschaftliche Stabilität und Konfliktfreiheit – und im internationalen Wettbewerb unter den aktuellen geopolitischen Gegebenheiten ein klarer Standortvorteil. Nachholbedarf gibt es beim Thema Fachkräfte. Es gilt den Schatz der potenziellen Arbeitnehmer:innen in Deutschland zu heben – etwa, indem wir mit flexibleren Arbeitszeitmodellen mehr Frauen aus der Teilzeitfalle holen.

Weshalb ist eine starke Pharmabranche in Deutschland und Europa wichtig?

Grioli: Eine innovative Gesundheitswirtschaft – und darin besonders die pharmazeutische Industrie – ist die Grundlage medizinischen Fortschritts, guter und sicherer Beschäftigung und gesellschaftlichen Wohlstands. Davon profitieren auch unzählige vor- und nachgelagerte Wertschöpfungsstufen, wie etwa der Grundstoffchemie. Diese Anbindung der Pharma- und Biotechnologiebranche an andere Branchen und zugleich an Forschungsstandorte ist ein Wettbewerbsvorteil und auch ein Grund, warum sich weiterhin viele Unternehmen für den Pharmastandort Deutschland entscheiden. Dieses Verbundsystem müssen wir pflegen. Dazu gehören wettbewerbsfähige Strom- und Gaspreise, ein klarer industriepolitischer Kurs, wirklich gelebte Sozialpartnerschaft und ein breiter Investitionspakt. Den politischen Willen, den wir aktuell in Form der Pharmastrategie sehen, vermissen wir ein Stück weit beim Rest der Industrie. Ich sage es ganz deutlich: Brechen heute Branchen weg wie die Grundstoffchemie, Papier oder Glas, dann schaden wir auch der Pharmaindustrie.

Pharmastandort Deutschland
Priorität 1: Fachkräfteentwicklungs-, -gewinnungs- & -bindungsstrategie. Foto: ©iStock.com/gorodenkoff

Was müsste die Politik tun, um den Pharmastandort Deutschland zu stärken – auch im Hinblick auf Fachkräftemangel und zunehmenden internationalen Wettbewerb?

Grioli: Die Bundesregierung hat die industrielle Gesundheitswirtschaft als eine zukünftige Leitindustrie identifiziert und verfolgt nun mit der vorgelegten Pharmastrategie einen mehr industriepolitischen Ansatz. Das ist richtig und wichtig! Allerdings werden die Beschäftigten sowie die Bedeutung der Sozialpartnerschaft und der damit einhergehenden Wertschöpfungs- sowie Lieferkettensicherung in den aktuell geplanten Maßnahmen zu wenig mitgedacht. Wir nutzen dieses Momentum, um auf diese fehlenden Elemente aufmerksam zu machen. Priorität 1 muss die Fachkräfteentwicklungs-, Fachkräftegewinnungs- und Fachkräftebindungsstrategie haben. Zum Zweiten müssen Forschungs-, Entwicklungs- und Produktionskapazitäten in Deutschland und Europa ausgeweitet werden, um die Abhängigkeit von politischen Entwicklungen im Ausland zu verringern. Dazu gehört, dass wieder mehr Hersteller in die Versorgung einsteigen. Unternehmen, die in mehr Liefersicherheit investierten und hier produzieren, haben naturgemäß höhere Herstellungskosten – und damit im preisgetriebenen Wettbewerb das Nachsehen. Wir fordern deshalb fairere Festpreise. Bedingung: Standortgarantien und Tarifbindung.

Weshalb und wie arbeiten Sie als Gewerkschaft mit der Pharmaindustrie im Rahmen eines so genannten „Fortschrittsdialoges“ zusammen? Und was verbirgt sich hinter diesem Fortschrittsdialog?

Grioli: Wir müssen deutlicher aufzeigen, was diese Industrie in Deutschland leistet und was sie benötigt, um weiter Teil der Weltspitze in der Biotechnologie zu sein. Wir wollen uns austauschen und informieren, über gute Arbeitsplätze, die Schaffung von Investitions- und Planungssicherheit, Anreize für Forschung und Entwicklung sowie Produktion in Deutschland.

Sie haben kürzlich gemeinsam mit großen Pharma-Unternehmen ein Positionspapier „EU Wahlarena“ veröffentlicht. Worum geht es dabei und welches sind die wichtigsten Punkte?

Gewerkschafter Francesco Grioli
Gewerkschafter Francesco Grioli. Foto: ©Stefan Koch

Grioli: Die industrielle Gesundheitswirtschaft ist ein konkretes Zukunftsfeld für Deutschland und Europa. Dieses wollen wir in den nächsten Jahren sozialpartnerschaftlich und im Dialog mit der Politik dynamisch nach vorn entwickeln. Damit wird ein kräftiger Impuls für Innovationen, Wertschöpfung und die Stärkung von Ökosystemen entlang der gesamten Wertschöpfungskette verbunden sein. So sichern wir die dauerhafte und bedarfsgerechte Patientenversorgung mit innovativen Arzneimitteln in Deutschland und Europa.

Wo sehen Sie die deutsche und europäische Pharmabranche in fünf Jahren?

Grioli: Auch in fünf Jahren muss unsere industrielle Gesundheitswirtschaft in Deutschland und Europa robust und innovativ sein. Sie muss sich im geopolitischen Umfeld behaupten können. Entscheidend ist mehr Widerstandskraft in der Arzneimittellieferkette. Dafür braucht es die richtigen politischen Rahmenbedingungen. Europas Souveränität muss geschützt werden, um auch im geopolitischen Umfeld zu bestehen. Die offenkundige Souveränitätslücken müssen daher geschlossen und die einzigartigen industriellen Verbünde, die wir in Teilen Europas haben, genutzt werden, um als Industriestandort, als Pharmastandort führend zu sein. Es braucht heute mehr Airbus-Momente in der europäischen Industriepolitik.

Weiterführende Links:

Pharma Fakten-Serie „Ausgerechnet Pharma? Die Menschen und ihre Jobs“

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