Weltweit leiden rund 400 Millionen Menschen unter einer seltenen Erkrankung, rund 4 Millionen davon in Deutschland – das sind mehr Betroffene als Berlin Einwohner:innen hat. Im Schnitt vergehen 5 Jahre, bis eine seltene Erkrankung diagnostiziert wird; für 95 Prozent der Patient:innen stehen keine geeigneten Medikamente zur Verfügung.
Das ist die Ausgangslage, die Moderator Prof. Dr. Dr. Christian Dierks skizzierte. Doch es gibt einen Lichtblick: Vor drei Jahren wurde die Initiative „Change4RARE“ ins Leben gerufen, an der sich mittlerweile 32 Expert:innen beteiligen. Unter dem Leitmotiv „Wissen verbinden, Perspektiven schaffen“ will „Change4RARE“ das Wissen um seltene Erkrankungen bündeln und zugänglich machen. Inzwischen hat die Initiative ein so genanntes „Whitebook“ herausgebracht, in dem ganz konkrete Lösungskonzepte vorgestellt werden.
Diese 5 Konzepte standen auch im Mittelpunkt des Round Table. Konkret geht es um:
- Datenerhebung
- Datennutzung
- Patientenpartizipation
- Versorgungsprozesse
- Versorgungsstrukturen
Was eher trocken klingt, könnte, wenn es denn optimiert wird, das Leben vieler Patient:innen mit einer seltenen Erkrankung grundlegend verändern und verbessern. Die Probleme beginnen bereits bei der Datenerhebung. Zwar gibt es zum Beispiel „allein in der ambulanten Behandlung jedes Jahr mehr als 550 Millionen Datensätze“, so Dierks, doch wie alle anderen vorhandenen Gesundheitsdaten in Deutschland „sind sie in unterschiedlichen Formaten vorhanden und können auch gar nicht miteinander verbunden werden.“
Mehr FHIR bei der Datennutzung
Eine, die das ändern möchte, ist Prof. Dr. Sylvia Thun, Direktorin für E-Health und Interoperabilität am Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIH) der Stiftung Charité. Sie erklärte: „Wir sind auf dem Weg und arbeiten an der Möglichkeit, Daten in einem einheitlichen Format zur Verfügung zu stellen“ – und zwar für Behandelnde, Patient:innen und auch Forschende. Dies geschehe zum Beispiel bereits in einer Datenbank namens „Orphanet“, in der seltene Erkrankungen beschrieben und dokumentiert werden. Das alleine reiche jedoch nicht. So müssten unter anderem die über 400 Gesundheitsregister in Deutschland, darunter viele für seltene Erkrankungen, vereinheitlicht werden. „Hier muss es so genannte Architekturen geben, die Austausch-Standards vorgeben“, so Thun. Ein solcher Standard, der den Datenaustausch im Gesundheitswesen unterstützt, trage den Namen FHIR – sowohl Politik als auch Industrie könnten und sollten dabei mithelfen, FHIR zu etablieren.
Daten wollen jedoch nicht nur gesammelt, sondern auch genutzt werden – idealerweise nicht nur von Mediziner:innen und Forschenden, sondern auch von Patient:innen. Eine zentrale Rolle könnte hier die elektronische Patientenakte (ePA) spielen, die bis zum 1. Januar 2025 für alle gesetzlich Versicherten verbindlich eingerichtet werden soll. Patient:innen, die eine solche ePA nicht haben wollen, können widersprechen. Die Change4Rare-Expert:innen rechnen jedoch eher damit, dass viele Menschen die ePA mit offenen Armen aufnehmen, jedenfalls dann, „wenn sie merken, dass sie einen Nutzen davon haben“ – so Prof. Dr. Jürgen Schäfer, Leiter des Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen (ZUSE) am Universitätsklinikum Marburg. Schäfer betonte: „Wir können mit Daten Menschen retten.“ Es sei unethisch, medizinische Daten unberechtigt zu nutzen. „Daten, die helfen können, nicht zu nutzen, ist ebenso unethisch.“ Denn dies führe dazu, dass Menschen jahrelang leiden müssten, obwohl es verhindert werden könnte. Als Beispiel führte Schäfer Patientinnen ins Feld, die einige Monate nach der Einnahme bestimmter hormoneller Verhütungsmittel eine Depression entwickelt hätten. Dass beides zusammenhängt, wäre anhand der Informationen in einer ePA rasch deutlich geworden. „Die Patienten sollten also keine Angst vor der Datennutzung haben“, so Schäfer, „sondern davor, dass man die Daten nicht nutzt.“
Besser aufklären – auch über die Risiken des Datenverzichts
Dem pflichtete Prof. Dr. Christof von Kalle bei, Onkologe und Vorsitzender des Direktoriums für Klinisch-Translationale Wissenschaften am BIH: „Wir klären die Patienten nicht über das Risiko auf, wenn ihre Daten nicht verarbeitet werden“, so von Kalle, „bei seltenen oder auch bei Krebserkrankungen werden diese Daten aber zum Teil überlebenswichtig – sie nicht zu speichern oder dem Arzt nicht kenntlich zu machen, kann schwere bis hin zu tödlichen Nebenwirkungen haben.“ Das werde jedoch nicht erklärt, sondern es werde nur gefragt, ob Daten gespeichert werden dürften. Zudem sei das System „in so viele einzelne Zustimmungen zerlegt“, dass ein gemeinsamer Datenbestand für die Patient:innen bis jetzt nicht Zustande gekommen sei. Von Kalle hält es deswegen „für extrem wichtig, dass wir diese Asymmetrie der Aufklärung verändern“ – und zwar in eine Form, die auch „vom Patienten verstanden werden kann.“
Ebenso wichtig wie Datennutzung und Aufklärung ist eine Beteiligung der Patient:innen. „Wir müssen die Patientenrechte in den Fokus nehmen“, betonte Martina Stamm-Fibich, Patientenbeauftragte der SPD im Bundestag. Sie räumte ein: „Bei der Finanzierung der Patienten-Selbsthilfe haben wir noch viel Luft nach oben – aber ich bin schon froh, wenn wir die geplanten Digitalisierungsgesetze in trockene Tücher bringen.“ Jürgen Schäfer regte an, das derzeit noch sehr „rudimentäre“ Lotsensystem für Patient:innen mit seltenen Erkrankungen auszubauen. Das würde den Hausärzt:innen die Arbeit erleichtern und auch den Patient:innen helfen, die gerade mit einer seltenen Erkrankung oft nicht wissen, an wen sie sich wenden können. Derzeit sind es Ehrenamtliche aus der Patienten-Selbsthilfe, die eine solche Lotsenfunktion übernehmen – hier sei eine Professionalisierung dringend geboten.
Elektronische Patientenakte mit Intelligenzfaktor
Von der Datenverwendung über die Patientenbeteiligung bis hin zur Versorgung – Christof von Kalle sprach allen Teilnehmenden aus der Seele, als er den Vorschlag aufgriff „eine intelligente ePA zu entwickeln“. Sie müsse von den Patient:innen gehandhabt werden können und auch ihr Recht berücksichtigen, „gefunden zu werden“ – und ihre Daten etwa für Forschungszwecke zur Verfügung zu stellen. Dies sollte nicht in jedem Fall anonymisiert geschehen, denn: „Gerade bei seltenen Erkrankungen möchten viele Patienten nicht, dass anonymisiert wird – denn die Anonymisierung zerstört die Möglichkeit der Patienten, zu erfahren, was genau erforscht wird.“
Im Hinblick auf die intelligente ePA betonte von Kalle allerdings zugleich: „Wir müssen gehen lernen, bevor wir rennen können.“ Das heisst: „Es wäre gut, wenn wir überhaupt erstmal eine ePA hätten, die einen einigermaßen vollständigen Datenbestand hat“. Damit wäre schon eine erste Voraussetzung geschaffen, um alle 5 Lösungskonzepte der Initiative „Change4RARE“ umzusetzen.
Veranstalter des virtuellen Round Table „Seltene sind nicht selten!“ am 24. Oktober 2023 war das Unternehmen Alexion Pharma Germany GmbH: https://change4rare.com/
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