Woran denken Sie, wenn Sie den Begriff EHDS hören? An Luft- und Raumfahrt? An eine Krankheit? Oder vielleicht doch ganz korrekt an den European Health Data Space, den Europäischen Raum für Gesundheitsdaten? Falls ja, dann gehören Sie zu einer Minderheit – und zwar auch dann, wenn Sie im Gesundheitswesen arbeiten, also schon von Berufs wegen irgendwann mit dem EHDS in Berührung kommen werden.
Im vergangenen Mai hat die Europäische Union verkündet, bis zum Jahr 2025 einen gemeinsamen Gesundheitsdatenraum einzuführen, der den Umgang mit Gesundheitsdaten EU-weit harmonisiert, vereinfacht und verbessert. Doch fast ein Jahr später haben die wenigsten Menschen von diesem Projekt gehört, das auch die Erforschung und Behandlung seltener Erkrankungen nach vorne bringen soll. Dies zeigen Umfrageergebnisse, die das digitale Meinungsforschungsinstitut Civey im Vorfeld des „Fachforums Gesundheit“ erhoben hat. Ergebnis: 45,1 Prozent der Erwerbstätigen in der Gesundheitsbranche kennen den EHDS nicht. Weitere 26,5 Prozent haben zwar davon gehört, wissen aber nicht, in welchen Bereichen der EHDS Nutzen stiften könnte. Und auf die Frage, wo die Menschen die Digitalisierung eigentlich wahrnehmen, antworteten ganze 3,1 Prozent: Im Gesundheitswesen.
Die Mehrzahl möchte Daten für die Forschung spenden
Doch Civey Vice President Judith Klose konnte auch mit erfreulicheren Zahlen aufwarten: So sind mit 64 Prozent fast zwei Drittel der Menschen in Deutschland bereit, ihre Daten anonymisiert für die Forschung zur Verfügung zu stellen. Diese hohe Bereitschaft zieht sich durch alle Altersgruppen und erreicht einen Gipfel bei den über 65-Jährigen – von Ihnen würden sogar 70 Prozent ihre Daten weitergeben. Zudem ist fast die Hälfte der Befragten überzeugt, dass digitale Netzwerke und Datenbanken geschaffen werden müssen, um die Erforschung seltener Erkrankungen weiter zu entwickeln.
Zusammenfassend erklärte Judith Klose: „Die Digitalisierung im Gesundheitswesen wird kaum wahrgenommen.“ Dabei gebe es eine große Bereitschaft, eigene Daten für Forschungszwecke zu spenden – und digitale Netzwerke würden als Treiber zur Erforschung von seltenen Erkrankungen angesehen.
Die Zahlen zeigen: Es bleibt in Deutschland noch viel zu tun, um den EHDS zu dem zu machen, wofür er gedacht ist – zu einem innovativen Projekt, das „die Rechte von Patienten zum Umgang mit ihren Daten stärkt“, so Thomas Renner, Digitalexperte im Gesundheitsministerium, und das außerdem eine „enorme Chance“ bietet für „Forschung, Innovation und personalisierte Medizin“. Renner kündigte an, „zeitnah ein Gesundheitsdaten-Nutzungsgesetz auf den Weg zu bringen“, das den EHDS in Deutschland „flankieren“ solle.
Chancen und Risiken
Doch worin liegt eigentlich die „enorme Chance“ des EHDS in Bezug auf seltene Erkrankungen? Auf diese Frage ging Friedhelm Leverkus ein, Director Health Technology & Outcomes Research bei Pfizer. Er verwies darauf, dass es bei den so genannten „Rare Diseases“ einzelne Indikationen mit gerade mal 30 Patient:innen in Deutschland gebe – es seien aber viel mehr Patient:innen nötig, die an Studien teilnehmen, in denen die Wirkung eines neuen Medikamentes nachgewiesen wird. Ein europäisches Register könne hier helfen, mehr Patient:innen für Studien zu finden – ebenso für „anwendungsbegleitende Datenerhebungen“, die nach der Zulassung eines Medikamentes erfolgen. Und auch für die Diagnose seltener Erkrankungen sei ein umfassender Datenraum wichtig, denn: „Hier kann zum Beispiel KI Hilfestellung bieten, Künstliche Intelligenz. Aber KI lernt aus bestehenden Fällen, da braucht man viele Fälle, 30 reichen da nicht.“ In Anspielung auf ausufernde Datenschutzdebatten erklärte Leverkus: „Der EHDS hat großes Potenzial. Wir müssen nur aufpassen, dass wir uns nicht selber mit irgendwelchen Regelungen ein Bein stellen.“ Und weiter: „Wir Deutschen sind vielleicht ein Volk von Dichtern und Denkern, aber für Daten haben wir leider wenig Verständnis.“
Ähnlich sieht das Professorin Sylvia Thun, Direktorin für Digitale Medizin und Interoperabilität am Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIH). Sie fühlt sich im Umgang mit ihren eigenen Daten eingeschränkt: „Das ist doch grotesk. Warum dürfen die Krankenkassen mehr über mich wissen als ich selber? Das macht keinen Sinn. Was ist denn so schlimm an den Daten? Also ich hatte keine Probleme damit, dem Robert Koch-Institut Daten aus meiner Watch zur Verfügung zu stellen und ich bin froh darüber, dass die damit forschen.“ Was genau während der Corona-Pandemie mit Thuns Daten erforscht wurde, interessiert sie gar nicht weiter. Und sie ist sicher, damit nicht alleine zu sein: „Den meisten Menschen ist das egal – aber sie brauchen Vertrauen.“ Es müsse eine Instanz geben, in der Daten zuverlässig anonymisiert würden. „Dann“, so Thun weiter, „dürfen die mit meinen Daten machen, was sie wollen. Das ist doch schön. Dann bekommen wir eine bessere medizinische Versorgung.“
„Freierer Austausch von Daten“
Auch Prof. Stefan Mundlos, Direktor des Instituts für Medizinische Genetik und Humangenetik an der Charité Berlin, plädierte für einen „freieren Austausch von Daten“ – der eben durch den EHDS auf den Weg gebracht werden könne. „Derzeit nutzen wir die Daten der Welt, die wir hier in Deutschland nicht haben und machen damit unsere Diagnosen.“ Das müsse sich dringend ändern, auch dadurch, dass es den Menschen einfacher gemacht werde, ihre Daten zur Verfügung zu stellen. Ein Beispiel: „Wir können unseren Patienten jetzt die Sequenzierung des ganzen Genoms anbieten. Dafür braucht es aber eine spezielle Einwilligung – und die ist 12 Seiten lang. Das durchzulesen ist eine Herausforderung.“ Mundlos warnte vor einem „Level der Komplexität“, der dazu beitrage, medizinische Fortschritte auszubremsen. Ein weiteres Problem sei „der Fluss der Daten.“ Erst, wenn Daten in großem Maßstab zusammengeführt und ausgewertet werden können, sei es möglich, seltene Erkrankungen besser und schneller zu diagnostizieren. Das sei auch deswegen wichtig, weil bei seltenen Erkrankungen, aber auch in der Krebsforschung, „durch feinere Methoden immer seltenere Formen entdeckt werden“. Mundlos wünscht sich eine Regelung, die den Umgang mit Daten so vereinfacht, „dass die moderne Forschung und Versorgung das effizient einsetzen kann.“
Nach zwei Stunden Vorträgen und Diskussionen zog Moderator und Tagesspiegel-Redakteur Gunnar Göpel das Fazit: „Der EHDS kann und wird vermutlich einen Unterschied machen. Es können alle davon profitieren: Patient:innen, akademische Forschung und alle, die in der medizinischen Versorgung tätig sind. Datenschutz ist dabei kein Hinderungsgrund. Aber Partizipation darf keine Qual sein, es darf keine 12-seitigen Anträge benötigen, um Genomdaten spenden zu können.“ Deutlich geworden sei außerdem ein „Bekanntheitsproblem“ des EHDS. „Die Menschen müssen Bescheid wissen“, so Göpel, „die Bürger:innen draußen interessieren die Standards nicht, auch nicht die rechtlichen Regeln – sondern sie interessiert, was es am Ende für sie bedeutet.“
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