Die Liste ist lang. Wer das „Verzeichnis der seltenen Erkrankungen“ von Orphanet öffnet, erblickt eine Liste von über 200 Seiten. Eng bedruckt finden sich dort die Namen von Erkrankungen wie die Castleman-Krankheit (Tumore an den Lymphknoten), die pulmonale Hypertonie (Lungenhochdruck) oder das Temple-Syndrom (Verzögerung des Wachstums aufgrund eines genetischen Defekts). Sogar das „Syndrom des gebrochenen Herzens“ gibt es – auch Stress-Kardiomyopathie genannt. Es ist eine seltene und oft schwerwiegende Funktionsstörung des Herzmuskels. Für die Mehrzahl der Erkrankungen auf dieser Liste gilt: Sie sind bis heute nicht ursächlich behandelbar.
Diese Liste ist hingegen nicht ganz so umfangreich, aber sie wird in hohem Tempo länger und länger: Auf 28 Seiten zählt der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) die in der Europäischen Union zugelassenen Arzneimittel gegen „Seltene“ auf, die über einen „Orphan Drug Status“ verfügen; es sind zurzeit 121. Hinzu kommen noch einmal rund 60 Medikamente, die diesen Status verloren haben – er wird für zehn Jahre gewährt – die den Patientinnen und Patienten aber trotzdem großteils noch als Therapie zur Verfügung stehen.
Die Therapie einer genetischen Erkrankung mit einer Tablette
Und so dürften auch die vergangenen Jahre für einige Patienten und Patientinnen (und die Menschen, die mit ihnen mitleiden) ein Wendepunkt gewesen sein: Mukoviszidose-Betroffenen steht eine ganz neue Kombinationstherapie zur Verfügung (Pharma Fakten berichtete). Sie setzt an den Ursachen der Krankheit an, bedeutet für viele Betroffene eine weitere Normalisierung in einem Alltag, der vom Management der Erkrankung beherrscht wird und macht berechtigte Hoffnung, dass sie die Lebenserwartung deutlich erhöhen wird. Das Medikament erlaubt die Behandlung einer genetischen Erkrankung mit einer Tablette. Vor einigen Jahren wäre das noch als Science-Fiction abgetan worden.
Menschen, die unter einer Transthyretin-Amyloidose (ATTR) leiden, haben oft einen langen Weg hinter sich, bis sie endlich eine klare Diagnose haben. Der Grund: Die Symptome der durch Eiweiß-Ablagerung verursachten Störungen sind so unspezifisch, dass sie eigentlich nur Experten feststellen können. Dabei ist eine schnelle Diagnose wichtiger denn je: Seit vergangenem Jahr gibt es ein Medikament; die Betroffenen können gezielt behandelt werden. Laut der Zulassungsstudie reduziert die Therapie die Sterberate (Gesamtmortalität) um 30 Prozent.
Orphan Drugs: Behandlungsmöglichkeiten, wo vorher keine waren
Bereits seit 2019 gibt es eine Behandlungsoption für Betroffene mit Phenylketonurie; kurz: PKU (Pharma Fakten berichtete). Ausgelöst durch eine Genveränderung, die den Eiweißstoffwechsel beeinflusst und zu schweren neurologischen Schädigungen führen kann, ermöglicht die moderne Medizin heute, dass PKU-Erkrankte ihre strenge Diät lockern können. Denn unbehandelt müssen sie sich strikt eiweißarm ernähren, womit ein Großteil der Lebensmittel für sie tabu ist.
Die Aufzählung ließe sich noch lange fortsetzen: Allein in den vergangenen drei Jahren kamen – zum Teil als erste Therapie überhaupt – Arzneimittel gegen Hepatitis D, das Multiple Myelom, Spinale Muskelatrophie (SMA), verschiedene seltene Blutkrebsarten, das Cushing-Syndrom oder die Sichelzellenkrankheit in die Apotheken. In seiner Bilanz 2020 schreibt der vfa: „So leiden weniger als drei von 10.000 Bürgern an der Krebserkrankung Mycosis fungoides; und nur wenige mehr an einer Hepatitis D-Infektion. Die erbliche Blutbildungsstörung Beta-Thalassämie betrifft sogar weniger als einen von 10.000 EU-Bürgern. Alle drei Krankheiten können mit Neueinführungen von 2020 gezielt behandelt werden.“ Vfa-Chef Han Steutel ergänzt: „Die im Jahr 2000 von der EU verabschiedete Verordnung für Medikamente gegen seltene Krankheiten motiviert Unternehmen weiterhin, auch Mittel gegen diese Erkrankungen zu entwickeln. Dieses erfolgreiche Rahmenprogramm sollte deshalb im bisherigen Umfang und uneingeschränkt weitergeführt werden.”
Seltene Erkrankungen: Die EU stellt die Weichen für eine Erfolgsgeschichte
Denn tatsächlich ist es diese EU-Verordnung, die die Wende in der Entwicklung von Therapien gegen seltene Erkrankungen eingeläutet hat. Kurz gesagt, baut sie Hürden ab, die der Entwicklung solcher Medikamente im Weg stehen, denn die ist aufwändig und hochkomplex (der vfa hat hier aufgeschrieben, was der Orphan Drug Status im Detail bedeutet). So können forschende Unternehmen damit rechnen, dass ihr Präparat eine „zehnjährige Marktexklusivität“ erhält, „die unabhängig vom Patentschutz gilt und auch ähnliche Wettbewerber-Medikamente vom Markt fern hält, solange diese nicht überlegen sind (oder einen Versorgungsengpass überwinden helfen)“, so der vfa. Damit sollen Investitionen gesichert und Anreize geschaffen werden.
Den Fortschritt bremst das nicht. Wettbewerbermedikamenten, die weiteren medizinischen Fortschritt bringen, wird die Zulassung nicht verwehrt. Dass das funktioniert, zeigt sich bei der Spinalen Muskelatrophie. Lange gab es keine Therapien, dann 2017 die erste, gefolgt von einer Gentherapie im vergangenen Jahr. 2021 soll in Europa das dritte Medikament zugelassen werden. Was hier so technisch klingt, dürfte für die Betroffenen einem Wunder gleichkommen: Noch vor vier Jahren wurden Säuglinge mit SMA meist nicht älter als zwei Jahre. Das ist heute anders. Das Beispiel zeigt: Selbst, wenn bereits wirksame Therapien verfügbar sind, suchen forschende Unternehmen weiterhin nach Wegen, die Behandlungsoptionen zu verbessern.
Kein Freibrief: Der Orphan Drug-Status in der EU
Die Verordnung funktioniert: Vor ihrer Einführung gab es so gut wie keine neuen Medikamente. Gleichzeitig ist der Orphan Drug Status kein Freibrief. Die Regeln sind streng und werden streng überwacht. Einen Orphan Drug-Status gibt es nur für Krankheiten, die selten und potenziell lebensbedrohlich sind und für die es keine oder nicht zufriedenstellende Behandlungsmöglichkeiten gibt. Pharmaunternehmen können diesen Status nur beantragen. Ob sie ihn bekommen, entscheidet die Zulassungsbehörde EMA. Schon deshalb läuft die oft geäußerte Kritik, Pharmaunternehmen würden die Regelung nutzen, um einfacher „das große Geld zu machen“, ins Leere. Und wenn sie sich auf den Kopf stellen würden: Nur die EMA vergibt diesen Status.
Einigen ist auch ein Dorn im Auge, dass die gesetzlichen Kassen immer mehr Geld für seltene Erkrankungen ausgeben müssen. Deshalb diskutiert man im gesundheitspolitischen Raum immer wieder die Frage, ob die Rahmenbedingungen für die Seltenen nicht geändert werden sollten. Tatsache ist, dass der Anteil der Orphan Drugs an den Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenkassen bei 4,9 Prozent liegt, wie der vfa betont. Der Anteil ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Überraschend ist, dass das jemanden überrascht. Denn es ist politisch gewollt, dass Menschen mit seltenen Erkrankungen nicht „hinten runterfallen“; sprich: dass auch sie am medizinischen Fortschritt teilhaben können. Und wenn Medikamente auf den Markt kommen, für die es bisher keine Behandlung gab, dann kostet das natürlich Geld.
„Selten sind Viele“ – daran erinnert die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (achse). Und es sind noch viele Krankheiten auf der Orphanet-Liste, die nicht behandelt werden können. Dahinter stehen Menschen, die darauf zählen, dass sich in der Forschung Menschen für sie einsetzen. Die EU-Verordnung aus dem Jahr 2000 ist ein Versprechen an sie, dass sich das nicht ändert.
Mehr Geschichten rund um Orphan Drugs gibt es unter unserer Tag-Cloud Seltene Krankheiten.