Dass Gentransfers grundsätzlich funktionieren können, weiß man bereits seit den 1950er Jahren. Das Ziel heißt: Veränderung der Genexpression in der Zelle. Erreicht werden soll das mittels einer „Genfähre“. Oder wissenschaftlicher ausgedruckt: Wissenschaftler nutzen einen Vektor, um Genmaterial in die Zelle zu transportieren. Dort soll optimalerweise entweder
- ein funktionales Gen hinzugefügt,
- ein dysfunktionales Gen korrigiert,
- oder ein natürliches Gen modifiziert werden.
Einige Jahre nach der Entdeckung des Prinzips gab es in den 1990er Jahren erste klinische Studien am Menschen: „Die erste Zeit der klinischen Erprobung von Gentherapien in den 1990er-Jahren war dabei durch beachtenswerte Durchbrüche, jedoch auch durch tragische Rückschläge gekennzeichnet“, heißt es in der IGES-Studie im Auftrag des Pharmaunternehmens Merck. Im Jahr 2012 dann die erste Zulassung eines Gentherapeutikums – eines Medikamentes gegen die extrem seltene Stoffwechselerkrankung Lipoprotein-Lipase-Defizienz (LPLD), an der in Deutschland wahrscheinlich höchstens 40 Menschen leiden. Es war ein medizinischer Durchbruch – aber die Ernüchterung folgte bald. Das Medikament ist heute nicht mehr auf dem Markt, denn die Erwartungen an seine Wirksamkeit erfüllten sich nicht und für das Unternehmen wurde es eine nicht mehr tragbare finanzielle Belastung. Heute sind in der EU insgesamt drei langfristige Gentherapien zugelassen: Eines gegen einen schweren angeborenen Immundefekt und zwei CAR-T-Therapien, die zur Behandlung von bestimmten Patienten mit akuter Leukämie und malignen Lymphomen zum Einsatz kommen sollen. Ein viertes Gentherapeutikum gegen den schwarzen Hautkrebs wirkt kurzzeitig.
In einer nach eigenen Angaben ersten Untersuchung dieser Art wollte das IGES nun wissen, was behandelnde Ärzte und ihre Patienten im Bereich neuer Gentherapien in den nächsten Jahren erwarten können. Dabei fokussierte sich das Institut auf die so genannten langwirksamen Gentherapien als solchen, die nur einmalig oder mehrmals mit anschließenden therapiefreien Jahren verabreicht werden. Kurzwirksame Gentherapien werden kontinuierlich gegeben.
Von den 45 Therapiegebieten, für die die Untersuchung fortgeschrittene klinische Studien identifizieren konnte, fällt knapp die Hälfte (19) auf Krebserkrankungen (s. Grafik). Am zweithäufigsten richten sie sich gegen angeborene genetische Störungen (7). Insgesamt werden die Therapien, sollten sie die Zulassungshürden meistern, das Behandlungsspektrum von 42 Krankheiten erweitern. Ein großer Teil der identifizierten Erkrankungen betrifft zwischen 1.000 und 10.000 Patienten der gesetzlichen Krankenkassen. Sechs der neuen Gentherapien richten sich gegen extrem seltene Leiden mit weniger als 100 Patienten. In Entwicklung sind auch drei Gentherapien gegen sogenannte Volkskrankheiten, etwa gegen Arthrose.