
Wir müssen alle umdenken. Adipositas hat mit Begriffen wie „Selbstverschulden“, „Lebensstilproblem“ oder einfach „Übergewicht“ wenig zu tun. Die Weltgesundheitsorganisation und mit ihr viele medizinische Fachgesellschaften erkennen sie mittlerweile als chronische Erkrankung an. Fragt man die Professorin Dr. Katharina Timper von der Technischen Universität München, sagt sie: „Adipositas ist eine meist polygenetische, selten monogenetische, chronische neurobiologische Erkrankung.“ Das bedeutet: Sie findet in unseren Gehirnen statt und ist in unseren Genen verankert. Denn dort befindet sich die Schaltzentrale für die Appetit- und Sättigungsregulation. Bis heute schleppen wir in unseren Genen die Frühgeschichte der Menschheit mit: „Es gab vor 100.000 Jahren längere Hungerphasen“, so Professor Dr. Matthias Laudes vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein. „Das hat dazu geführt, dass bis heute unser Gehirn nicht schnell genug auf Sättigungssignale hört“ – ein Überlebensvorteil, wenn es mal wieder länger nichts zu essen gab. „Die Menschheit ist evolutionär darauf konditioniert, auf Reserve zu essen. Das ist der Grund für Adipositas.“ Oder noch mal in den Worten von Professorin Timper: „Adipositas ist nicht die Folge von zu viel essen. Zu viel essen ist die Folge von Adipositas.“
Das ändert alles. Und macht deutlich, warum manchmal vielleicht sogar gut gemeinte Ratschläge (á la „mach mal Sport“ oder „iss mal weniger“) gar nicht helfen. Das Hirn ist die Schaltzentrale, die die Nahrungsaufnahme steuert. Schlimmer noch: Der Prozess ist im Hypothalamus verankert, dem Steuerungszentrum für vegetative Prozesse. Die meisten Funktionen in dieser Hirnregion laufen automatisch und ohne willentliche Kontrolle ab. Das ist auch der Grund, warum Arzneimittelinnovationen wie die GLP-1-Hemmer, die hochwirksam das Gewicht reduzieren können und als so genannte Abnehmspritzen bekannt sind, genau auf diese Prozesse im Gehirn einwirken.
Adipositas: Eine der größten gesundheitlichen Herausforderungen
Die Krankheit gilt längst als „eine der größten gesundheitlichen und gesundheitspolitischen Erkrankungen weltweit“, wie Helena Kühnemund erklärte. Sie ist Direktorin für Corporate Affairs beim forschenden Unternehmen Lilly, das die Veranstaltung auf dem EGKM „Wer übernimmt Verantwortung für Adipositas?“ möglich gemacht hat.
„Weltweit sind etwa eine Milliarde Menschen betroffen. In Deutschland sind es circa 17 Millionen.“ Oder viereinhalb Mal die Einwohnerzahl von Berlin. Die Grafik zeigt: Die Zahl der Betroffenen nimmt stark zu; die Prävalenz stieg von 12,2 Prozent (2003) auf 19,7 Prozent zehn Jahre später. Weltweit Spitzenreiter sind die USA (34 Prozent).
Hinzu kommt: „Adipositas ist Einfallstor für viele schwerwiegende Erkrankungen wie Krebs, Diabetes, Schlaganfall und Herzkreislauf-Erkrankungen,“ so Kühnemund. Doch im Gegensatz zu diesen Erkrankungen stehen Menschen mit Adipositas „nur wenige Therapiebausteine zur Verfügung.“
„Adipositas tut weh – körperlich und seelisch.“

Angesichts der Zahlen gibt es für Professor Laudes nur eine Lösung: „Es muss jetzt etwas passieren. Wenn wir jetzt nichts machen, werden die Gesundheitskosten der Adipositas nicht mehr beherrschbar sein.“ Immerhin: Auch in Deutschland hat der Gesetzgeber die Erkrankung als eine chronische eingestuft und das oberste Selbstverwaltungsorgan des Gesundheitswesens, der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), hat 2023 die Voraussetzungen für ein so genanntes Disease Management-Programm (DMP) geschaffen. Der Ball liegt nun bei den Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen – dort liegt er schon länger.
Doch solange die Finanzierung des DMP nicht geklärt ist, wird es nicht anlaufen. Für Christel Moll, die als Vorsitzende des Adipositas-Verbandes auf dem Podium saß, ist das die größte Hürde für eine bessere Versorgung. „Die Menschen wissen, dass ein DMP beschlossen ist, setzen ihre Hoffnungen darauf, bei den Behandlern gehört zu werden, nicht stigmatisiert zu werden, echte Hilfe zu finden, aber die gibt es noch nicht.“ Sie ergänzt: „Adipositas tut weh – körperlich und seelisch.“ Für Moll ist das, was gerade passiert, „unterlassene Hilfeleistung.“
Adipositas: Eine teure Angelegenheit

Die Adipositas kostet gesamtgesellschaftlich schon heute sehr viel Geld. Professorin Dr. Amelie Wuppermann von der Universität Bayreuth rief verschiedene Studien auf, die zeigen, dass die direkten und indirekten Kosten im zweistelligen Milliardenbereich liegen. „Das kommt mir in der ganzen Debatte zu kurz“, so Patienten-Vertreterin Moll. „Wie viele Menschen kommen nach Therapie wieder ins Berufsleben zurück und können dann wieder Sozialabgaben zahlen? Das muss auch gegengerechnet werden.“
Angesichts der Anzahl der Betroffenen hat die Politik große Sorgen vor den Kosten der Behandlung – das machte der CDU-Bundestagsabgeordnete Professor Dr. Hans Theiss deutlich. Doch auch dafür hat die Medizin einen Lösungsweg aufgezeichnet, wie Professor Laudes erklärte. Er plädiert dafür, sich zunächst auf die Menschen mit einer „klinischen Adipositas“ zu fokussieren. Das sind diejenigen mit einem erhöhten Body Mass Index (BMI, größer als 30 kg/m2), einer erhöhten Fettmasse und mit bereits manifesten Begleiterkrankungen. Das entspricht nur einem Anteil der Betroffenen, aber es sind diejenigen, bei denen eine Therapie besonders dringend ist. „Wir haben die Daten, die zeigen: Wenn wir die Adipositas behandeln – sei es mit Operationen oder den entsprechenden Medikamenten – dann verbessert sich eben nicht nur das Körpergewicht dauerhaft, sondern wir sehen Abnahme von Herzinfarktraten.“ Die Wissenschaftler:innen auf dem Podium waren sich einig: Eine Nichtbehandlung der Adipositas wäre am Ende die teurere Variante, mit der Erkrankung umzugehen.
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