
„Noch vor 20 Jahren waren die Patientenrechte in Deutschland gar nicht richtig kodifiziert“, erklärte Dr. Danner, Bundesgeschäftsführer der BAG Selbsthilfe – die Dachorganisation von rund 120 bundesweit aktiven Selbsthilfeorganisationen behinderter und chronisch kranker Menschen und ihren Angehörigen. „Das war ein gemeinsamer Kampf, den wir mit den anderen Patientenorganisationen geführt haben, dass Patientenrechte beispielsweise im Bürgerlichen Gesetzbuch ausgeschrieben wurden“ – darunter etwa das Recht auf Aufklärung. Die Mitwirkungsmöglichkeiten gehen – zumindest theoretisch – über die individuelle Ebene hinaus: So ist etwa die Patientenbeteiligung im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) (über Mitberatungs- und Antragsrechte) gesetzlich verankert – der G-BA ist das höchste Gremium der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen Deutschlands. Er bestimmt, welche medizinischen Leistungen gesetzlich Versicherte erhalten; daher sollen dort auch die Betroffenen eine Stimme erhalten.
Doch dieses „auf Augenhöhe“-Prinzip scheint sich noch lange nicht überall in der Republik durchgesetzt zu haben, wie auf dem Herbstforum 2025 – eine gemeinsame Veranstaltung der forschenden Pharmaunternehmen Amgen, AstraZeneca, Bristol Myers Squibb und Roche – deutlich wurde. Das hat mitunter systemische Gründe. „Der Kulturwandel, der dafür erforderlich ist, ist noch gar nicht richtig abgeschlossen“, findet Dr. Danner. Das beginnt mit der Ausbildung des Fachpersonals: Der Patient:innen-Kontakt spiele „im Medizinstudium nicht so sehr eine Rolle. Und auch die kommunikativen Erfordernisse, die Shared Decision Making mit sich bringt, sind Kompetenzen, die vermittelt werden müssten.“ Hinzu kommt: Nach wie vor führt die Sprechende Medizin im Gesundheitswesen ein Schattendasein. „Letztendlich ist es rein monetär betrachtet für einen Arzt eher ´Luxus`, wenn er sich die Zeit nimmt, sehr ausführlich mit den Patienten zu sprechen.“
Shared Decision Making mit System
Ein Luxus? Das muss (und darf) so nicht sein. Ist es als Konzept einmal richtig implementiert, lohnt sich die gemeinsame Entscheidungsfindung von Ärzt:innen und Patient:innen für alle Seiten, selbst für die Kostenträger. Das machte Prof. Dr. Friedemann Geiger, Diplom-Psychologe am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), deutlich. Er leitet dort das Projekt „SHARE TO CARE“: „Wir hatten die Chance vom Innovationsfonds im großen Maßstab ein ganzes Krankenhaus so umzustellen, dass Shared Decision Making (SDM) zum Standard wird. Das haben wir in Kiel am Uniklinikum gemacht. Der Anspruch war, etwas zu schaffen, das – wenn es funktioniert – ausrollbar auf die ganze Republik ist.“ Damit SDM deutschlandweit Realität wird – und nicht vom Wissen, Talent oder Engagement einzelner Menschen abhängig ist – muss es nach bestimmten Kriterien ablaufen, die systematisch und flächendeckend etabliert werden können. Laut dem SHARE TO CARE-Programm läuft ein Arzt-Patienten-Gespräch in sechs Schritten beispielsweise wie folgt ab:

- Gesprächsziel definieren: „Heute geht es darum, gemeinsam über das weitere Vorgehen zu entscheiden. In Ihrer Situation gibt es mehrere medizinisch sinnvolle Möglichkeiten. Jede davon hat Vor- und Nachteile.“
- Patientenbeteiligung begründen: „Daher ist Ihre Einschätzung wichtig, welche dieser Möglichkeiten in Ihrer Lebenssituation am besten passt.“
- Vor- und Nachteile jeder Therapieoption erläutern: „Es gibt im Grunde die 3 Möglichkeiten A, B und C. Ich erkläre Ihnen jetzt nacheinander die jeweiligen Vor- und Nachteile. Fangen wir mit A an…“.
- Erwartungen und Bedenken explorieren: „Gibt es für Sie persönlich noch andere wichtige Punkte, die bei der Entscheidung bedacht werden sollten?“
- Entscheidung treffen: „Neigen Sie schon jetzt zu einer der besprochenen Möglichkeiten? Oder was brauchen Sie noch, um eine Entscheidung treffen zu können?“
- Umsetzung planen: „Ich schreibe Ihnen eine Überweisung und in 4 Wochen sehen wir uns wieder. Wir können dann kontrollieren, ob die Blutwerte sich normalisiert haben.“
Zur Unterstützung erhalten Patient:innen Online-Entscheidungshilfen – also Informationen zu ihren Handlungsmöglichkeiten auf Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse, veranschaulicht durch Texte, Infografiken und Videos. Von Vorteil ist, „wenn wir weitere medizinische Fachkräfte wie Pflegekräfte dazu befähigen, mit den Patienten diese Entscheidungshilfen durchzugehen“, so Prof. Dr. Geiger. Dazu wird ihnen eine Schulung zum Decision Coach oder zur Entscheidungsbegleitung angeboten.
SDM: Gut für Patient:innen, Ärzt:innen und Kostenträger
„Ein weiterer wichtiger Punkt ist, die Gesprächsfertigkeiten und -fähigkeiten von Ärztinnen und Ärzten zu verbessern“, betonte Dr. Geiger. Am Beginn steht ein einstündiges Online-Training – es vermittelt Grundlagenwissen zu SDM anhand von Lehrbeispielen. Anschließend werden zwei reale Entscheidungsgespräche auf Video aufgezeichnet. Die Ärzt:innen erhalten dann von speziell ausgebildeten Trainer:innen ein individuelles Feedback mit Verbesserungsvorschlägen. Im Rahmen von SHARE TO CARE werden darüber hinaus auch die Patient:innen selbst angeleitet, sich aktiv an ihren Therapieentscheidungen zu beteiligen. Für ihr Arztgespräch erhalten sie dazu einen Leitfaden mit konkreten Fragen, die sie stellen können. „All das sind Dinge, die – wenn sie so umgesetzt werden – massiv die Gesprächsqualität verbessern“, fasste Prof. Dr. Geiger zusammen.
Eine Evaluation des SHARE TO CARE-Programms in Kiel zeigt: SDM ist nicht nur möglich – es ist auch wirksam und kosteneffizient. „Wir konnten das Level von SDM steigern. Wir konnten eine bessere Gesundheitskompetenz auf Patienten-Seite erzeugen. Und wir hatten im Resultat weniger Notfalleinweisungen“, so Prof. Dr. Geiger. „Die Patienten wurden bei uns entlassen, wie in allen anderen Krankenhäusern auch, aber bei uns kamen sie viel seltener als Notfälle wieder“ – vermutlich, weil sie besser informiert waren und besser mit ihrer Erkrankung und möglichen Komplikationen umgehen konnten. Davon profitiert das Gesundheitssystem als Ganzes: „Wir konnten nachweisen, dass wir in Kiel im Vergleich zum Bundesdurchschnitt der Krankenhäuser mit SDM tatsächlich eine Kostensenkung haben. Wir haben sogar deutlich mehr Geld eingespart, als uns die ganze Implementierung gekostet hat.“ Und auch die Arzt-Patienten-Gespräche werden durch SDM nicht länger. Das Fazit des Experten: „Durch eine bessere Gesprächsstruktur schafft man in derselben Zeit eine bessere Gesprächsqualität und dann bessere Outcomes.“ Letztlich ist es ein Win-Win-Win – für Patient:innen, Ärzt:innen und Kostenträger.
Shared Decision Making: In die Regelversorgung?

2023 hat der Gemeinsame Bundesausschuss eine Empfehlung ausgesprochen, das SHARE TO CARE-Programm in die Regelversorgung zu überführen. Mehrere Krankenhäuser seien schon dabei, SDM zu implementieren – darunter Unikliniken in München, Erlangen oder Aachen. Rund 200 weitere Krankenhäuser möchten laut Prof. Dr. Geiger gerne damit starten, sobald es eine Lösung dafür gibt, wie das Konzept tatsächlich in der Regelversorgung verankert und somit finanziell gesichert werden kann.
In einer Diskussionsrunde betonte Christel Moll, Vorsitzende beim Adipositas Verband Deutschland e. V., nochmal, wie wichtig „Aufklärung, Information“ für alle Seiten ist. Für die Leitungen von Selbsthilfegruppen bietet ihr Verband regelmäßig „Schulungen, Seminare und regionale Gruppen zum Austausch“ an. Selbsthilfegruppen seien immens wichtig – die Betroffenen können dort erfahren, dass sie nicht allein sind, und Mut schöpfen, sodass sie im Arztgespräch ihre Rechte einfordern und Bedürfnisse artikulieren. Im Bereich Adipositas arbeite man zusätzlich daran, die medizinische S3-Leitlinie „in Patientenleitlinien umzuwandeln, damit auch ein Patient versteht, um was es geht“. Und mit Blick auf die Fachkräfte hat sie weitere Ideen: „Ich glaube, ich mache aus der Patientenleitlinie ein E-Book, ein Hörspiel oder Podcast, sodass die Ärzte das in ihrem Auto hören können – nebenher, unterwegs.“

PD Dr. Carolina Pape-Köhler, Klinikum Bielefeld Rosenhöhe, Adipositas-Klinik, appellierte: „Es bedarf Mut auf allen Seiten. Mut seitens der Ärzteschaft sich den aufgeklärten Patienten zu stellen. Mut seitens der Patienten, die Verantwortung für die Erkrankung mitzutragen und nicht nur in die Hände des Arztes zu geben. Und Mut seitens der Politiker, so ein möglicherweise ungeliebtes Thema aufzugreifen.“ Apropos Politik: Moll kritisierte, auf Bundesebene zu wenig Gehör zu erhalten. Ihr Wunsch? „Dass die Politiker auch SDM lernen.“
Für Stefan Schwartze, Patientenbeauftragter der Bundesregierung, jedenfalls ist klar, wie wichtig SDM ist. „Ein optimaler Behandlungserfolg ist begründet in einer optimalen Mitwirkung des Patienten.“ Und: „Ich bin der festen Überzeugung, dass das Geld im System spart und dass das reingehört in die Diskussion um die Kosten in der Gesetzlichen Krankenversicherung.“
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