Das hat schon etwas von Alarmismus: Für das Jahr 2022 sieht das WIdO mal wieder einen „Ausgabenrekord für Arzneimittel“. Es hätte auch schreiben können: „Ausgabenrekord bei Krankenhäusern: Jeder 3. Euro der GKV geht an die Kliniken in Deutschland.“ Oder „Ausgabenrekord bei den Honoraren für Ärzt:innen“: Das war im Jahr 2022 jeder 6. Euro. Nicht ganz so hoch war der Anteil der Arzneimittel und ihre Distribution (plus Mehrwertsteuer).
Und warum nicht gleich: „Ausgabenrekord bei der GKV – noch nie hat das System mehr Geld ausgegeben.“ Wer hat eigentlich je behauptet, dass ein System, das immer mehr Menschen (Rekord!), die immer älter werden (Rekord!), mit einer immer besseren Medizin versorgt, nicht teurer werden soll? Zumal, wenn es ihnen verspricht, dass sie Anspruch auf die beste verfügbare Versorgung haben?
Das WIdO beklagt insbesondere, dass die Ausgaben für patentgeschützte Präparate steigen, und fasst das unter der Formel „Mehr Geld für weniger Versorgung“ zusammen. Das ist Populismus, denn Innovationen verbessern die Versorgung. Im Jahr 2022 kamen 49 neue Arzneimittel in die Apotheken; der Pharmaverband vfa schrieb damals: „Pharmaunternehmen haben 2022 in Deutschland für neue Behandlungsmöglichkeiten bei mehr als 60 Krankheiten gesorgt und für 4 Krankheiten neue Präventionsmöglichkeiten geschaffen.“ Es ist wenig Kaffeesatzleserei, wenn man eine ähnliche Innovationsbilanz für das laufende Jahr voraussagt. „Ein Drittel der patentgeschützten Arzneimittel für Krebserkrankungen“, heißt es in der WIdO-Pressemitteilung. Ein Glück: Krebserkrankungen sind die 2.-häufigste Todesursache in Deutschland. Wir brauchen mehr neue Medikamente, nicht weniger.
Mehr Geld für mehr Versorgung
Wenig aufregend ist auch die Tatsache, dass der Anteil der patentgeschützten Arzneimittel an allen Medikamenten seit Jahren sinkt (und damit anteilig immer teurer wird). Denn der Pool an Generika steigt Jahr für Jahr – es sind die Innovationen von gestern, die eine Versorgung erkrankter Menschen zu deutlich niedrigeren Preisen heute möglich machen. Das ist der Innovationskreislauf, der dafür sorgt, dass den Menschen ein ständig wachsendes Angebot von wirksamen und sicheren Arzneimitteln zur Verfügung steht. Die WIdO-Formel müsste deshalb lauten: „Mehr Geld für mehr Versorgung.“ Berücksichtigt man noch die Tatsache, dass die Ausgaben inflationsbereinigt in den vergangenen 2 Jahren gesunken sind (weil die Geldentwertung höher war als die Ausgabensteigerungen), könnte man noch einen draufsetzen: „Weniger Geld für mehr Versorgung.“
Zur Beruhigung aller kann man noch anfügen, dass sich der Anteil der GKV-Ausgaben für Arzneimittel seit Willy Brandt nicht merklich verändert hat. Der Wert schwankt seit Jahrzehnten um den Wert von 17 Prozent herum, wobei dort noch die Milliardensummen für die Versorgung durch Großhandel und Apotheken sowie die Mehrwertsteuer berücksichtigt sind. Der Anteil aller Pharmaunternehmen liegt eher im Bereich von 11 Prozent; der Anteil der patentgeschützten Präparate macht rund 7 Prozent der GKV-Gesamtausgaben aus.
Das mit dem „Mehr Geld für weniger Versorgung“ macht das WIdO auch daran fest, dass die verordneten Tagesdosen (DDD) bei patentgeschützten Arzneimitteln sinken; sprich, dass für mehr Geld weniger Arzneimittel zur Verfügung gestellt werden. Das ist mit Verlaub irreführend, weil die Anzahl der Tagesdosis wenig über die Versorgung aussagt: Eine Gentherapie mit einer Einmalgabe entspricht genau einer DDD. Diese Tagesdosis ist natürlich vergleichsweise teuer. Sollen wir mal eine Krebspatientin fragen, deren letzte Chance eine CAR-T-Therapie ist, ob sie das als “weniger Versorgung” empfindet?
Nutzenbewertung: Auch der G-BA ist nicht unfehlbar
In der Pressemitteilung des WIdO fehlt auch nicht der Hinweis, dass mit einer Vielzahl der neuen Arzneimittel keine Verbesserung der Versorgungsqualität erreicht werden konnte – trotz des Bewertungsverfahrens AMNOG. Das Institut behauptet, dass die GKV in den vergangenen Jahren 2-stellige Milliardensummen für Arzneimittel „ohne jeglichen Zusatznutzen“ ausgeben musste. Auch das: Populismus. Denn „kein Zusatznutzen“ bedeutet nicht, dass das Arzneimittel keinen „Nutzen“ für die Versorgung, für die Patient:innen hat (es wäre sonst nie zugelassen worden). Es muss nicht einmal bedeuten, dass es keinen „Zusatznutzen“ hat.
Denn AMNOG-Entscheidungen sind nicht unfehlbar. AMNOG-Fans müssen jetzt stark sein: Das AMNOG erkennt gar nicht, ob ein Arzneimittel einen Zusatznutzen hat oder nicht. Es bewertet lediglich auf der Basis bestimmter methodischer Vorgaben, ob aus Sicht der Mehrheit der Vertreter:innen des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) ausreichend Belege für einen Zusatznutzen vorliegen oder nicht.
Wobei nicht vergessen werden darf, dass in dem Verfahren der GKV-Spitzenverband ein gewichtiges Wort mitzureden hat, der, weil seine Mitglieder die Arzneimittel am Ende bezahlen müssen, ein intrinsisches Interesse an schlechten Bewertungen hat, denn diese führen in der Regel zu niedrigen Preisen und damit zu geringeren Ausgaben für die GKV. Dem G-BA geht es wie dem Papst: Er ist nicht unfehlbar. Wer das nicht glaubt, dem sei das Lesen von Anhörungsprotokollen empfohlen, die man beim G-BA einsehen kann: Regelhaft prallen Methodik der AMNOG-Organe auf die Erfahrungen medizinischer Fachgesellschaften.
Sparpolitik? Auf der Strecke bleiben die Patient:innen
Die Strategie des WIdO, innovative Arzneimittel an die Wand zu schreiben, deckt sich mit ein paar Weichen, die namentlich das Bundesgesundheitsministerium (BMG) im vergangenen Jahr mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz gestellt hat. Es hat die Rahmenbedingungen für neue Arzneimittel erheblich verschlechtert und sorgt direkt und indirekt dafür, dass die Zahl der nicht (mehr) verfügbaren neuen Arzneimittel steigt (Rekord?). Das BMG sieht durch das Gesetz übrigens trotzdem keine negativen Folgen für die Versorgung der Patient:innen oder für den Forschungsstandort. Dem haben die Ministerpräsident:innen widersprochen. Sie sorgen sich darum, dass der deutsche Absatzmarkt für Arzneimittel „aufgrund der aktuellen Erstattungspreispolitik für Pharmaunternehmen nicht mehr attraktiv ist“.
Auf der Strecke bleiben die Menschen. Weil ihnen keiner sagt, dass eine Sparpolitik längst dafür sorgt, dass sich ihre Chancen, mit den bestverfügbaren Arzneimitteln versorgt zu werden, zunehmend verschlechtern. Auf jeden Fall gilt: Eine nachhaltige Finanzierung der GKV ist im Sinne aller Akteure im Gesundheitswesen; auch Pharmaunternehmen haben daran ein großes Interesse. Aber fehlgeleitete Debatten über Arzneimittelausgaben und Populismus helfen dabei nicht. Vielmehr lenken sie davon ab, wo der Hund wirklich begraben liegt: Die GKV braucht einschneidende, strukturelle Reformen. Nur dann wird das System aus dem Strudel der ständigen Krisenbewältigung herauskommen. Nur dann ist es wirklich zukunftsfähig.
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