Herr Prof. Dr. Watzl, einige Expert:innen erwarten im Herbst deutlich steigende Corona-Fallzahlen. Teilen Sie diese Einschätzung?
Prof. Dr. Carsten Watzl: Sicher. Wir sehen ja derzeit noch einen saisonalen Effekt im Sommer, der eigentlich Infektionen entgegenwirken sollte. Trotzdem haben wir Inzidenzen von rund 700 – denn die dominierende Omikron-Variante ist so ansteckend, dass sie gut gegen diesen Sommereffekt ankommt. Im Herbst fällt dieser saisonale Effekt weg – deshalb gehe ich schon davon aus, dass wir dann noch höhere Infektionszahlen haben werden.
Wird bis dahin die Variante Omikron BA.5 noch dominieren oder kann schon wieder eine ganz neue Variante auftauchen?
Watzl: Ich bin davon überzeugt, dass BA.5 nicht die letzte Variante des Corona-Virus ist. Ob aber die nächste Variante schon im Herbst kommt oder etwas später, das wage ich kaum vorherzusagen. Bisher haben sich immer die Varianten durchgesetzt, die einen Verbreitungsvorteil hatten – entweder, weil sie einfacher übertragbar waren oder weil die Menschen vor den vorherigen Varianten besser geschützt waren, durch Impfungen oder durchgemachte Infektionen. Es ist schwer vorherzusagen, ob sich das Virus noch einmal komplett verändert, wie beim Sprung von Delta zu Omikron, oder ob es schon eine maximale Fitness erreicht hat. Mein Bauchgefühl sagt, wir werden im Herbst immer noch BA.5 oder vielleicht leicht abgewandelte Varianten haben.
Welche Situation erwarten Sie auf den Intensivstationen?
Watzl: Generell gehe ich nicht davon aus, dass wir eine Überlastung auf den Intensivstationen aufgrund der Patienten haben werden, die wegen Corona dort liegen. Die meisten Infektionen bei Menschen, die jünger als 60 und immungesund sind, laufen ja derzeit leicht ab. Da landen nur sehr wenige Fälle auf der Intensivstation. Dort sehen wir fast ausschließlich vulnerable Gruppen, also Menschen mit Vorerkrankungen, stark übergewichtige Menschen oder ähnliches. Wenn allerdings im Herbst die Infektionszahlen deutlich nach oben gehen, dann könnte der „Infektionsdruck zunehmen“, wie das Robert Koch-Institut es ausdrückt.
Und das heißt?
Watzl: Hohe Inzidenzen erhöhen natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass das Virus auch vulnerable Gruppen erreicht, die ein hohes Risiko haben, schwer zu erkranken. Hinzu kommt: Bei hohen Infektionszahlen fällt auch Personal aus. Außerdem stehen die Krankenhäuser vor logistischen Herausforderungen, wenn es dort viele Patienten gibt, die zum Beispiel an der Hüfte operiert werden müssen, aber eine Corona-Infektion haben, die erst in der Klinik diagnostiziert wird. Sie müssen dann isoliert werden – und das ist nicht ganz einfach. Es gibt aber auch gute Nachrichten.
Welche?
Watzl: Ich will nicht zu viel versprechen, aber: Wenn ich mir die an Omikron angepassten Impfstoffe ansehe, dann schaffen sie es, neutralisierende Antikörperspiegel zu erzeugen, die durchaus hoch sind. Das bedeutet: Nach einer vierten Impfung, mit einem an Omikron angepassten Impfstoff, gibt es wieder einen guten Schutz vor einer Infektion, zumindest für eine bestimmte Zeit. Es könnte also gelingen, dass wir uns, ähnlich wie bei der Delta-Variante, aus einer Infektionswelle herausimpfen können.
Dieser an die neueste Omikron-Variante angepasste Impfstoff ist bislang noch nicht auf dem Markt. Rechnen Sie damit, dass es bis Herbst ein solches Impf-Angebot gibt?
Watzl: Das hängt in diesem Fall gar nicht an den Herstellern, sondern an den Zulassungsbehörden. Die Hersteller produzieren den Impfstoff ja schon und sagen, sobald er zugelassen ist, können wir liefern. Die Anträge bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA und bei der amerikanischen Food and Drug Administration FDA sind ja schon gestellt – wenn jetzt zügig die Zulassungen erfolgen, dann steht der angepasste Impfstoff voraussichtlich im September zur Verfügung.
Wie sinnvoll ist eine vierte Impfung für Menschen, die bereits geboostert sind?
Watzl: Ehrlich gesagt: Immungesunde Menschen unter 60 haben nach drei Impfungen eine gute Grundimmunität erreicht. Sie liegen nach einer Infektion vielleicht ein paar Tage mit Fieber im Bett, aber sie müssen nicht ins Krankenhaus. Bei jüngeren, gesunden Menschen gehe ich davon aus, dass eine Dreifach-Impfung meistens ausreicht. Aber bei älteren und vorerkrankten Menschen macht eine vierte Impfung absolut Sinn. Ich rechne damit, dass die STIKO, die Ständige Impfkommission, im Herbst eine Impfempfehlung für alle 60 plus abgeben wird, ebenso für Menschen mit Vorerkrankungen und mit geschwächtem Immunsystem.
Was müssten wir tun, um uns optimal auf den Herbst vorzubereiten?
Watzl: Drei Dinge. Erstens: Eine gute Impf-Logistik schaffen. Da sieht es schon jetzt gut aus. Mir sagen zumindest die Hausärzte, dass sie es selber schaffen, Menschen über 60 und Vorerkrankte zu impfen. Vielleicht brauchen sie noch etwas Hilfe von Impfzentren oder mobilen Impfteams – aber alles in allem glaube ich, dass die Logistik steht und die Impfstoffe bald zur Verfügung stehen. Zweitens: Es gibt mittlerweile Medikamente, die die Virusvermehrung unterdrücken, Paxlovid und ähnliche. Die machen auch Sinn, vor allem für Menschen, die vielleicht geimpft sind, aber aufgrund einer Immunschwäche gar nicht richtig auf die Impfung reagieren können. Sie müssen diese Medikamente erhalten – und zwar möglichst früh, also drei bis fünf Tage nach den ersten Symptomen. Da müssen wir noch ein bisschen mehr Aufklärungsarbeit betreiben. Ich kenne Hausärzte, die haben ihre Risiko-Patienten angesprochen und gesagt, sie sollen nach einem positiven Test sofort in die Praxis kommen und sich ein Rezept abholen. Das sind ja Tabletten, die einfach einzunehmen sind und dann noch einmal 80 Prozent der schweren Erkrankungen verhindern können. Wir müssen also bei der Therapie von Infizierten besser werden, da haben uns die Amerikaner einiges voraus. Dort kann man sich diese Medikamente per Post zuschicken lassen. Drittens: Wir müssen es schaffen, die vulnerablen Gruppen zu schützen.
Wie könnte das gelingen?
Watzl: Wir wissen ja, was wirkt: Maske, Abstand, Testen.
Derzeit gibt es keine Maskenpflicht im Supermarkt, keinen Abstand in Zügen und Bahnhöfen und keine kostenlosen Schnelltests.
Watzl: Ich glaube schon, dass wir wieder Masken in Innenräumen tragen müssen, dass wir Abstand halten und vielleicht auch Kontakte reduzieren müssen. Ganz ohne Maßnahmen sollten wir nicht in den Winter gehen. Allerdings ist die Immunitätslage heute viel besser als bei früheren Corona-Wellen. Deshalb glaube ich nicht, dass wir Lockdowns brauchen.
Und kostenlose Corona-Tests?
Watzl: Wir brauchen nicht unbedingt anlasslose Tests, aber: Wenn jemand Symptome hat, sollte sie oder er sich schon testen können. Ich erlebe leider auch manchmal, dass mir Leute berichten: „Ich hatte Symptome, habe zuhause einen positiven Schnelltest gemacht – aber der Arzt hat keinen PCR-Test gemacht, sondern mich einfach nur krankgeschrieben.“ Da glaube ich schon, dass wir noch etwas verbessern können. Menschen mit Symptomen sollten wissen, ob sie Corona haben oder nicht – auch, weil sie sich dann ja isolieren müssen.
Bis wann rechnen Sie mit einem Ende der Corona-Pandemie?
Watzl: Das Corona-Virus wird nicht verschwinden, aber wir werden einen Übergang von einer Pandemie zu einer so genannten Endemie erleben. Allerdings wird sich niemand trauen, eine solche Endemie gleich zu Beginn auszurufen. Sondern es wird wahrscheinlich retrospektiv passieren, also im Nachhinein. Ich könnte mir vorstellen, dass wir auf einmal merken, ups, wir sind ja ganz gut durch den Herbst und Winter gekommen, mit vergleichsweise wenigen Maßnahmen. Es kann also sein, dass unsere Grundimmunität uns in die Endemie führt – es könnte vielleicht schon nach dem nächsten Winter so weit sein.
Worauf gründet sich diese Zuversicht?
Watzl: Das RKI hat kürzlich einen Bericht zur Immunitätslage veröffentlicht, der zeigt: Gut 90 Prozent der über 18-Jährigen haben eine Immunität erworben, entweder durch Impfung oder durch Infektion oder beides. Das sind Daten vom Jahreswechsel 21/22. Durch die anschließende Omikronwelle und die diesjährige Sommerwelle kommen noch einmal etliche Infektionen hinzu – wir können also davon ausgehen, dass die Immunitätslücke jetzt nicht mehr bei knapp 10 Prozent, sondern nur noch bei 5 Prozent liegt. Das hilft auf dem Weg in die Endemie.
Aber das Virus verändert sich doch.
Watzl: Ja, es gibt eine so genannte Immunflucht, bei der sich das Virus so verändert, dass durchgemachte Infektionen oder Impfungen weniger gut schützen. Aber das heißt nicht, dass unser Immunsystem komplett wehrlos wäre. Die Abwehr ist vielleicht nicht optimal, aber eine einmal erworbene Immunität nützt uns auch bei künftigen Varianten. Ich glaube nicht, dass das Virus sich noch einmal so stark verändern könnte, dass wir bei null anfangen. Natürlich können neue Varianten vorbeikommen – aber wenn wir den Impfstoff anpassen oder uns mit diesen neuen Varianten infizieren, dann werden genau jene Immunzellen stimuliert, die wir schon durch frühere Impfungen oder Infektionen erworben haben. Im Laufe der Zeit erreichen wir eine Grundimmunität, die immer unabhängiger von den einzelnen Varianten wird. Damit werden die Viren für uns ungefährlicher. Und selbst, wenn eine Variante auftaucht, die stärker krank macht: Dann brauchen wir vielleicht immer mal wieder eine generelle Impfempfehlung für eine Auffrisch-Impfung mit angepassten Impfstoffen – aber wir stehen nicht mehr so hilflos da wie noch zu Beginn der Pandemie.
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