Nutzen forschende Pharmaunternehmen eine EU-Verordnung aus  um das große Geld zu machen? Ein Faktencheck. Foto: ©iStock.com/Alexander Raths
Nutzen forschende Pharmaunternehmen eine EU-Verordnung aus um das große Geld zu machen? Ein Faktencheck. Foto: ©iStock.com/Alexander Raths

Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen: Mythen – und was dahintersteckt

Seit dem Jahr 2000 tut sich viel in der Arzneimittelentwicklung gegen seltene und sehr seltene Erkrankungen. Möglich macht das der wissenschaftliche Fortschritt. Möglich gemacht hat das aber auch ein regulatorischer Eingriff. Die EU hat mit der Verordnung EG 141/2000 die Rahmenbedingungen geschaffen, dass sich die Entwicklung solcher Therapien auch für privat organisierte Unternehmen refinanzieren lässt. Die Verordnung ist ein Erfolg: Noch nie gab es so viele Medikamente, noch nie wurde so viel erforscht, noch nie waren die Pipelines so voll. Trotzdem hagelt es immer wieder Kritik. Doch was ist dran? Ein Faktencheck.

„Patienten mit seltenen Leiden müssen dasselbe Recht auf gute Behandlung haben wie andere Patienten. Daher müssen Erforschung, Entwicklung und Inverkehrbringen geeigneter Arzneimittel durch die pharmazeutische Industrie gefördert werden“ – so heißt es in der Begründung der EU-Verordnung EG 141/2000 über Arzneimittel für seltene Leiden. Denn: „Bestimmte Leiden treten so selten auf, dass die Kosten für die Entwicklung und das Inverkehrbringen eines Arzneimittels für die Diagnose, Verhütung oder Behandlung des Leidens durch den zu erwartenden Umsatz des Mittels nicht gedeckt werden würden.“ Es ist ein Regulierungsakt mit Folgen: Seitdem gibt es so viele zugelassene Medikamente gegen seltene Erkrankungen wie noch nie (laut Zulassungsbehörde EMA rund 160). Außerdem befinden sich in den Pipelines viele weitere Wirkstoffe, die die Chance auf eine Zulassung als Orphan Drug haben.

Trotz dieser Erfolgsgeschichte sehen sich forschende Pharmaunternehmen der Kritik ausgesetzt, sie würden die Regelung missbrauchen. Dabei dreht sich die Kritik – wie so oft – um das Geld. Aber nicht nur.

Mythos Nr. 1: Weniger Patienten und Patientinnen, weniger Aufwand, weniger Kosten

Foto: ©iStock.com/Alexander Raths
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Weniger Patienten und Patientinnen, weniger Aufwand, geringere Kosten – so lässt sich die Rationale dieses Mythos zusammenfassen. Klingt plausibel, ist es aber nicht. Denn für den Entwurf von klinischen Studien gegen eine seltene Erkrankung gibt es selten eine „Blaupause“. Heißt: Studiendesigns müssen oft ganz neu entwickelt werden und manchmal sogar die Diagnosemöglichkeiten, um die Erkrankung zu erkennen, und die Methoden, um den Therapieerfolg messen zu können. Auch die Definition von Studienendpunkten ist eine Herausforderung. Fazit aus dem Biotechreport von The Bosten Consulting Group und dem Pharmaverband vfa (2014): „Die Kosten pro Patient in einer klinischen Studie für eine seltene Erkrankung sind somit oft deutlich höher als für eine häufigere Erkrankung.“

Mythos Nr. 2: Arzneimittel gegen „Seltene“ lassen sich schneller entwickeln

Um genügend Betroffene in Studien einzuschließen, damit statistisch verwertbare Aussagen getroffen werden können, ist eine globale Koordinierung notwendig. Für die Mehrheit der „Seltenen“ gilt, dass die Krankheiten selbst oft noch in hohem Maße unverstanden sind und nur wenige klinische Zentren für die Durchführung in Frage kommen. Menschen mit ein und derselben seltenen Erkrankung können zudem höchst unterschiedliche Ausprägungen aufweisen. Mehr als 80 Prozent der seltenen Erkrankungen haben eine genetische Ursache. So komplex sich oft das Krankheitsbild darstellt, so komplex ist auch die Entwicklung solcher Medikamente. Mögliche Kosten- und Zeitvorteile nennt der vfa „rein hypothetisch“.

Mythos Nr. 3: Pharmaunternehmen unterlaufen die Kriterien für Seltene Erkrankungen

Immer wieder gerne genommen ist der Vorwurf, dass gewiefte Pharmamanager und Pharmamanagerinnen häufige Krankheiten „kleinrechnen“, um in den Genuss der Vorteile der EU-Regelung zu kommen. Dafür haben sich Begriffe wie „Slicing“ oder „Orphanisierung“ eingebürgert. Es ist ein Mythos ohne Substanz, denn die EMA erlaubt es nicht.

Eine Erkrankung ist „selten“, wenn sie bei max. fünf von 10.000 Menschen in der EU auftritt.
Foto: ©iStock.com/fizkes
Eine Erkrankung ist „selten“, wenn sie bei max. fünf von 10.000 Menschen in der EU auftritt.
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Ein Beispiel: Lungenkrebs ist keine seltene Krankheit. Aber die genetischen Dispositionen der Betroffenen haben zu immer kleineren Patientengruppen geführt, für die entsprechende Medikamente entwickelt werden – auf sie geht ein Großteil der Fortschritte zurück, die bei der Behandlung in den vergangenen Jahren erzielt wurden (Pharma Fakten berichtete). Diese zielgerichtete, patientenindividuelle und letztlich erfolgreiche Strategie führt zu Patientengruppen, die so klein sind, dass sie der Definition der EU entsprechen, nach der „selten“ eine Erkrankung nur dann ist, wenn sie bei maximal fünf von 10.000 Menschen in der EU auftritt. Trotzdem haben solche Medikamente keinen Orphan-Drug-Status. Und es gibt bis heute in Europa kein Lungenkrebsmedikament, das einen solchen Status hat.

Mythos Nr. 4: Für Orphan Drugs gelten eigene, laxere Regeln

Die Zulassung für Medikamente gegen seltene Erkrankungen erfolgt nach denselben Regeln wie für jedes andere Medikament auch. Tatsache ist aber, dass die Entscheidung über Sicherheit und Wirksamkeit zwangsläufig auf einer kleineren und damit unsicheren Datenbasis erfolgen muss als bei Medikamenten für häufige Krankheiten: Die Entwicklung einer Therapie gegen Morbus Pompe, einer Stoffwechselerkrankung, die nur bei 0,137 von 10.000 Menschen in Europa auftritt, findet unter anderen Bedingungen statt als eine Therapie gegen Asthma (europaweit mehr als 30 Millionen Betroffene).

Wenn eine Krankheit schwer ist und die Behandlungsoptionen rar, kann die EMA eine bedingte und befristete Zulassung erteilen. Sie tat das beispielsweise bei der ersten CAR-T-Therapie gegen das Mantelzell-Lymphom, einer seltenen Form von Blutkrebs. CAR-T-Therapien gehören zu einer neuen Generation von personalisierten Immuntherapien (Pharma Fakten berichtete). Sie kommen zum Einsatz, wenn vorherige Therapien nicht angesprochen haben und die Patientinnen und Patienten eine schlechte Prognose haben. Die EMA schreibt dazu: „Dieser Typ von Zulassung ermöglicht es der Behörde, ein Medikament mit weniger Daten als normalerweise erwartet, zuzulassen in Fällen, in denen der Nutzen der sofortigen Verfügbarkeit einer Therapie für die Patientinnen und Patienten die Risiken überwiegt.“ Deswegen dringt die EMA auf die Langzeitauswertung der Zulassungsstudien und eine Registerstudie, durch die die Therapie eng überwacht wird.

Sprich: Auch bei Orphan Drugs wird alles getan, damit die Medikamente sicher sind. Die Entscheidung der Behörde ist eine Abwägung zwischen Nutzen und Risiko.

Mythos Nr. 5: Orphan Drugs sind erhebliche Kostentreiber

Orphan Drugs: wachsende Zahl an Behandlungsmöglichkeiten. Foto: ©iStock.com/Alexander Raths
Orphan Drugs: wachsende Zahl an Behandlungsmöglichkeiten. Foto: ©iStock.com/Alexander Raths

Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen für Orphan Drugs steigen seit Jahren. Dass sie steigen, ist kein Wunder und gesellschaftspolitisch gewollt: Es ist Ausdruck einer wachsenden Zahl von Behandlungsmöglichkeiten, die es bisher nicht gab und die schon deswegen zu Mehrausgaben führen müssen. Richtig ist auch, dass Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen Geld kosten. In der Regel sind sie deutlich teurer als Arzneimittel gegen häufige Krankheiten. Das ist unter anderem eine Folge des „Mengenproblems“. Denn seltene Erkrankungen sind zum Glück selten. Aber für die forschenden Unternehmen bedeutet das: Hohen Entwicklungsrisiken und -kosten stehen nur geringe Absatzmengen gegenüber. „Obwohl es in den letzten Jahren im Markt deutlich mehr Orphan Drugs geworden sind, entfallen auf sie pro Jahr nicht mehr als 4,9 % der Arzneimittelausgaben der Krankenkassen“, so der vfa. „Das liegt auch daran, dass der Orphan-Status nur maximal 10 Jahre lang gilt.“

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