Arzttermine koordinieren, Patient:innen von A nach B führen, Ansprechperson für alle Belange sein: Patientenlots:innen sind echte Unterstützung für chronisch Kranke und medizinisches Personal. Foto: ©iStock.com/Inside Creative House
Arzttermine koordinieren, Patient:innen von A nach B führen, Ansprechperson für alle Belange sein: Patientenlots:innen sind echte Unterstützung für chronisch Kranke und medizinisches Personal. Foto: ©iStock.com/Inside Creative House

Gemeinsam durch den Dschungel des Gesundheitswesens

Das deutsche Gesundheitssystem ist komplex. Sehr komplex. Das wird besonders bei Erkrankungen deutlich, die chronisch verlaufen und deren Behandlung eine Vielzahl an medizinischen Fachdisziplinen bedarf. Wer soll da den Überblick über notwendige Untersuchungen, verschiedene Ärzt:innen und Kostenträger behalten? Joachim Sproß, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke, findet: Patientenlots:innen sind die Lösung.

Auf Initiative der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke (DGM) arbeiten seit 2020 an mehreren Neuromuskulären Zentren in Deutschland Patientenlots:innen. Können Sie den Hintergrund erklären?

Joachim Sproß, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke
Joachim Sproß, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke. Foto: Juri Junkow

Joachim Sproß: Die DGM ist die größte Selbsthilfeorganisation für Menschen mit neuromuskulären Erkrankungen in Deutschland. Das sind seltene Erkrankungen, bei denen vornehmlich Muskeln betroffen sind und die Muskelkraft nachlässt. Sie sind sehr komplex, denn Diagnostik und Behandlung sowie ihr Management erfordern die Einbeziehung unterschiedlicher medizinischer Fachrichtungen. Oft reicht eine rein neurologische Betreuung nicht aus, sondern es braucht zum Beispiel orthopädisches, pneumologisches, gastroenterologisches sowie kardiologisches Fachpersonal. Es handelt sich um multimorbide Erkrankungen – mit beeinträchtigt sind häufig Beatmung oder Herz, die Nahrungsaufnahme kann erschwert sein. Der Koordinationsaufwand der Termine mit den Fachmediziner:innen ist hoch – ein Unterstützungsangebot besonders für die Menschen mit einer hohen emotional belastenden Lebenssituation aufgrund der zum Teil lebensverkürzenden Erkrankungen bietet die Lotsentätigkeit.

Zumal das deutsche Gesundheitssystem nicht gerade einfach zu durchschauen ist…

Sproß: Da liegt das zweite komplexe System: Es gibt Hausärzt:innen und verschiedene Fachärzt:innen, ambulante Versorgung im Krankenhaus, stationäre Versorgung, die Neuromuskulären Zentren, also Kliniken, in denen Muskelkranke interdisziplinär betreut werden. Zudem gibt es unterschiedliche Kostenträger- und Refinanzierungssysteme, die Organisation von Therapie, Hilfsmittel und Aufwand für Teilhabe im sozialen Leben. Die Patient:innen und ihr gesamtes medizinisch-therapeutisches Setting stehen in unglaublich umfangreichen Bezügen. 

Und Patientenlots:innen sollen helfen, hier den Überblick zu behalten?

Sproß: Die Idee ist, dass es eine Person gibt, die die betroffenen Menschen an die Hand nimmt und die Mediziner:innen koordiniert. Die Patient:innen sollen im besten Fall an einem Tag mit mehreren Fachleuten – etwa aus Kardiologie und Neurologie – an einer Klinik sprechen können, sodass sie nicht mehrmals anreisen müssen. Idealerweise geschieht das sogar in einer einzigen Besprechung, sodass sich alle Behandelnden gemeinsam austauschen. Patientenlots:innen koordinieren, sie kümmern sich, dass alles Befunde und diagnostischen Voruntersuchungen vorliegen, sie unterstützen das medizinische Personal bei administrativen Aufgaben und lotsen die Patient:innen von A nach B.

Wie läuft das genau ab?

Patientenlots:innen als Koordinator:innen
Patientenlots:innen: Betroffene an die Hand nehmen. Foto: ©iStock.com/Inside Creative House

Sproß: Aktuell ist das als Pilotprojekt konzipiert: Wir haben fünf Patientenlotsinnen – fünf Kolleginnen – die bei der DGM angestellt sind. Finanziell unterstützt wird das von mehreren Pharmaunternehmen – Alexion, Novartis, Pfizer, Roche, Sarepta, PTC Therapeutics – und einer Privatperson, Herr Patrick Schwarz-Schütte. Die Lotsinnen arbeiten jeweils an einem Neuromuskulären Zentrum – in Jena, Leipzig, Heidelberg, Essen und Göttingen. Das heißt, sie sind dort vor Ort als feste Ansprechpartnerin, Wegweiserin sowie Koordinatorin innerhalb des Zentrums tätig, sie organisieren interdisziplinäre Konsultationen, leiten die Patient:innen zu den entsprechend notwendigen Stellen.

Das klingt nach einer umfassenden Jobbeschreibung…

Sproß: Es ist richtig, dass sie umfangreich beansprucht werden, sie sind Gesprächspartner für Patient:innen und Case Manager. Denn die Lotsinnen haben nicht nur Fachkenntnisse über das medizinische Setting, sondern gehen auch individuell auf die Bedürfnisse der Patient:innen ein. Empathie, Sozialpädagogik, Gesprächsführung sind gefragt. Auch verweisen sie auf Leistungserbringer zum Thema Hilfsmittel oder Pflege. 

Wer profitiert davon, wenn es Patientenlots:innen gibt?

Sproß: Alle drei Beteiligte im Verfahren. Zum einen natürlich die Patient:innen. Ziel des Projektes ist es unter anderem, die Wartezeit bei einem Neuromuskulären Zentrum zu verkürzen. Zum anderen das medizinische Personal: Denn wenn Lots:innen dem Fachpersonal der Zentren Administration und Organisatorisches abnehmen, können die Mediziner:innen sich mehr der Medizin widmen. Zum dritten der Kostenträger, der durch präzisere und frühe Diagnosestellungen sowie Therapieoptimierungen Kosten einspart. 

Der Verlauf, Inhalte und Effekte der Lotsentätigkeit werden zudem unabhängig wissenschaftlich vom Universitätsklinikum Freiburg evaluiert. Es gibt Zwischenergebnisse vom ersten Jahr des Pilotprojektes. Die ersten Patient:innenbefragungen fielen insgesamt  sehr positiv aus. Es zeigte sich, dass die Lotsinnen den Betroffenen die Unterstützung geben konnten, um sich innerhalb des Klinikalltags zurechtzufinden. Sie empfanden es als erleichternd, eine bekannte Ansprechperson für alle Belange zu haben – als Anker in diesem großen Haus. 

Und welches Fazit ziehen medizinisches Personal und Lotsinnen aus dem Pilotprojekt?

Medizinische Versorgung von Patient:innen
Patient:innenbefragungen zur Lotsentätigkeit fielen positiv aus. Foto: ©iStock.com/monkeybusinessimages

Sproß: Dazu laufen noch Befragungen. Die Ergebnisse werden auf dem „Tag der Patientenlotsen“ am 20. Oktober in Berlin präsentiert. Man kann grundsätzlich sagen: Mediziner:innen profitieren natürlich, wenn ihnen administrative Tätigkeiten abgenommen werden. Und: Letztendlich nutzt das Ganze auch den Kostenträgern. Denn mit Hilfe von Lots:innen können Diagnosen schneller gestellt werden. So kann eher therapeutisch agiert werden, um zum Beispiel das Fortschreiten einer Erkrankung zu verlangsamen. Insgesamt eröffnet das Projekt viele Optimierungsmöglichkeiten und Einsparpotenziale.

Schaffen es Patientenlots:innen eines Tages in die Regelversorgung der Gesetzlichen Krankenversicherung?

Sproß: Bundesweit gibt es inzwischen über 45 Projekte mit Patientenlots:innen, die Menschen mit unterschiedlichen Erkrankungen unterstützen. Die Bundesregierung weiß, dass der Bedarf da ist – und hat die Installation von Patientenlots:innen in den Koalitionsvertrag aufgenommen. Ich bin mir relativ sicher, dass wir in Deutschland das Lotsensystem perspektivisch in die Regelversorgung einführen werden. Die Frage ist, wie sich das dann genau ausgestaltet – sowohl in Bezug auf die Tätigkeit als auch in Bezug auf die Frage, wo das angedockt ist, also bei den Leistungserbringer:innen, den Kassen oder den Patient:innen. Da sind noch einige Unklarheiten. 

Ihre Vision?

Sproß: Tatsache ist, dass wir Lots:innen nicht nur in einer Indikation benötigen, sondern eigentlich müssten sie sehr individuell an den Patient:innen orientiert sein. Wenn wir ganz groß denken würden, brauchen wir sie über alle Leistungen übergreifend, die im Sozialgesetzbuch geregelt sind: Ein kranker Mensch ist ja nicht nur auf die klassische medizinische Versorgung angewiesen, sondern eventuell auch auf Reha-Maßnahmen, Eingliederung in die Berufswelt, Hilfsmittel und vieles mehr. Die Lots:innen müssten also individuell bei den Betroffenen angesetzt werden, um sie durch all diese Hilfemodule zu führen. Ich weiß: Das ist eine große Vision. Die kleine Vision ist, dass wir Patientenlots:innen in Kliniken als feste Ansprechpersonen für betroffene Menschen haben, um unterstützend und koordinierend auf die Prozesse von Diagnostik, Therapie und Versorgung einzuwirken.

Weiterführende Links:

Anmeldeformular und Programm zum „Tag der Patientenlotsen“ am 20.10.2022

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