Fit für die Zukunft? Beim Tagesspiegel Evening Talk diskutierten Gesundheitsexpert:innen darüber, wie es um die Kindergesundheitsversorgung in Deutschland bestellt ist. Foto: ©iStock.com/SeventyFour
Fit für die Zukunft? Beim Tagesspiegel Evening Talk diskutierten Gesundheitsexpert:innen darüber, wie es um die Kindergesundheitsversorgung in Deutschland bestellt ist. Foto: ©iStock.com/SeventyFour

Gesundheitsversorgung von Kindern: Welche Schritte notwendig sind

Wie steht es um die Gesundheitsversorgung von Kindern in Deutschland? Und wie sehen die Zukunftsperspektiven aus? Um dieses Thema ging es beim „Tagesspiegel Evening Talk“, wo Kindermediziner:innen und Politiker aufeinander trafen. Dabei wurde schnell klar: Es gibt gleich mehrere Problembereiche, die dringend angegangen werden müssen.
Europäischer Ansatz gegen Lieferengpässe gefragt
Gesetz gegen Lieferengpässe: ALBVVG. Foto: ©iStock.com/Jens Domschky

Viele Eltern erinnern sich mit Schrecken: Als im Herbst 2023 die Infektions- und Erkältungswelle heranrollte, fehlte es plötzlich überall an Kinderarzneimitteln. Ob Säfte, Tropfen, Lösungen oder Zäpfchen, stets hieß es in der Apotheke: „Haben wir leider gerade nicht da und können wir auch nicht bestellen.“ Ein Zustand, der sich über Monate hinzog. Die damaligen Lieferengpässe wurden erst abgebaut, als auch die Erkältungswelle abgeebbt war.

Kann so etwas in dieser Saison wieder passieren? Und was hat sich getan, um erneute Lieferengpässe zu vermeiden? Dr. Burkhard Rodeck, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, wies zunächst darauf hin, dass auch im Gesundheitswesen wirtschaftliche Grundprinzipien gelten: „Wenn die Herstellung eines Produktes nicht mehr wirtschaftlich abbildbar ist, dann wird es auch nicht mehr hergestellt. Das kann man völlig ohne Vorwurf gegenüber der pharmazeutischen Industrie so erst einmal festhalten.“

Europäischer Ansatz gegen Lieferengpässe gefragt

Einen ersten Schritt im Kampf gegen Lieferprobleme ging ein Gesetz, das im Juli 2023 verabschiedet wurde: Das ALBVVG – das Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz. Dieses Gesetz geht nach Rodecks Worten zumindest „partiell“ auf die Probleme ein, zum Beispiel „mit einer Aussetzung der Festbetragsregel“, die bestimmte Höchstgrenzen für die Erstattung von Arzneimitteln vorsieht. „Diese Aussetzung der Festbetragsregel muss verstetigt werden, Produktion und Vertrieb von Kinderarzneimitteln müssen auskömmlich finanziert werden“, so Rodeck. Ein deutsches Gesetz reiche allerdings nicht aus, um die Generika-Hersteller dazu zu bringen, statt in China, Pakistan und Indien wieder in Deutschland zu produzieren. „Das braucht einen völlig anderen, europäischen Ansatz“, erklärte der Kinderarzt.

Medikamente auf dem Markt
Beginnende Erkältungssaison: Sind wir vorbereitet? Foto: ©iStock.com/kadmy

Immerhin, für die jetzt beginnende Erkältungssaison wagte Rodeck einen positiven Ausblick: „Ich habe bei Pro Generika und anderen Herstellern von Kinderarzneimitteln nachgefragt: Im Moment gibt es eine gesteigerte und ausreichende Produktion und Bevorratung, so, dass wir erstmal relativ sicher sind. Aber wir wissen alle noch nicht, wie die Infektionswelle in dieser Saison läuft.“ Der positive Ausblick gilt zudem nicht für alle Kinderarzneimittel. So erklärte etwa Prof. Angelika Eggert, Kinderonkologin an der Berliner Charité: „Allgemeine Medikamente wie Fieberzäpfchen und Schmerzmittel, das geht gerade so. Insgesamt würde ich die Versorgungslage aber als unberechenbar beschreiben.“ Sie habe gerade erst eine große Studie schließen müssen, weil ein dort enthaltenes Medikament nicht mehr hergestellt wird. Jakob Maske, Sprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, ergänzte: „Es sind schon wieder über 500 Medikamente, die wir im Kinderbereich nicht bekommen.“ Viele seien durch andere Medikamente ersetzbar, etliche aber auch nicht: „Es gibt bestimmte Asthma-Medikamente, Antibiotika und Anti-Epileptika, die teilweise nicht zur Verfügung stehen.“ Maske weiter: „Wir haben auch jetzt schon wieder eine absolute Mangellage, die in anderen europäischen Ländern ganz anders aussieht. Da muss man sich schon fragen: Wieso kann man diese Medikamente in Polen oder den Niederlanden kaufen, in Deutschland aber nicht?“

Problembereich „Off-Label-Use“

Neben der aktuellen Versorgungslage sieht Burkhard Rodeck noch einen anderen großen Problembereich: Den so genannten Off-Label-Use von Medikamenten, also die Verwendung von Wirkstoffen ohne Zulassung speziell für Kinder. Viele Medikamente sind nur für Erwachsene zugelassen, was nach Rodecks Worten zur Folge hat, „dass wir Pädiater uns in einem rechtsfreien Raum bewegen – bei niedergelassenen Kinderärzten werden 30 Prozent der Medikamente im Off-Label-Bereich eingesetzt, in der Klinik sind es 60 bis 70 Prozent, auf den Kinderintensivstationen 90 Prozent.“ Das sei zwar geduldet, bringe aber trotzdem Probleme mit sich, angefangen vom Haftungsproblem bis hin zur Erstattung. Beim Off-Label-Use müssten die Krankenkassen die Kosten nicht erstatten, sondern könnten es auf freiwilliger Basis tun.

Allerdings gebe es eine EU-Kinderverordnung, die unter anderem „pädiatrische Prüfkonzepte“ für Arzneimittel vorsieht, die bei Kindern angewendet werden sollen. Diese Prüfkonzepte werden vom wissenschaftlichen Pädiatrieausschuss der Europäischen Arzneimittelagentur EMA festgelegt – ebenso die Ausnahmen, die es in begründeten Fällen geben kann. Burkhard Rodeck warnte jedoch: „Dieser Pädiatrie-Ausschuss ist im Moment in seiner Fortführung nicht sicher in Europa. Es droht die Gefahr, dass dieses entscheidende Instrument, das Kinderarzneimittel nach vorne bringen könnte, in einer untergeordneten Struktur deutlich an Gewicht verliert.“ Und an die anwesenden Politiker gerichtet: „Hier sollten wir unseren deutschen Einfluss in der EU-Kommission sehr deutlich formulieren, dass dieser Ausschuss weiter existiert.“

Zahnloser PUMA

Was wir den Kindern schuldig sind
Kindergesundheit: Was wir den Kindern schuldig sind. ©iStock.com/romrodinka

Rodeck ging auch auf das so genannte PUMA-Verfahren (Paediatric use marketing authorisation) ein, bei dem Arzneimittel für Erwachsene die Genehmigung erhalten können, auch bei Kindern eingesetzt zu werden: „Dieses PUMA-Verfahren muss man als gescheitert betrachten.“ Als Beispiel nannte Rodeck ein Cortison-Präparat, das für Neugeborene mit einer bestimmten Stoffwechsel-Erkrankung eingesetzt werden sollte. Dieses Präparat gab es bislang als Tablette, womit es für Neugeborene nicht verwendbar war. „Hier hat ein pharmazeutisches Unternehmen eine Suspension hergestellt, deren Zusatznutzen nicht in einem neuen Wirkstoff lag, denn es war der alte Wirkstoff, sondern in der Darreichungsform – dieser Zusatznutzen (der entscheidend für die Preisverhandlungen ist, Anm. d. Red.) wurde vom G-BA nicht erkannt.“

Rodeck fordert deshalb: „Wenn wir eine PUMA-Zulassung in Europa haben, dann brauchen wir keine zusätzliche Zulassung über den G-BA. Zusatznutzen ist Zusatznutzen – warum brauchen wir nochmal einen deutschen Zusatznutzen, der belegt werden muss? Das ist ein klassischer Beitrag zum Bürokratie-Aufbau.“

Was wir den Kindern schuldig sind

Die Politiker in der Runde sahen die Fortschritte bei der Gesundheitsversorgung von Kindern naturgemäß unterschiedlich. Grünen-Gesundheitsexperte Johannes Wagner erklärte: „Beim ALBVVG ist der Name schrecklich, aber die Wirkung ist es nicht. Wir können nicht sofort die Entwicklung der letzten 20 Jahre rückgängig machen“ – aber die Richtung stimme, zumal die Kindermedizin auch von der eben beschlossenen Krankenhaus-Reform profitiere. Und weiter: „Wir haben kontinuierlich jedes Jahr fast 300 Millionen Euro zusätzlich für die Pädiatrie sicherstellen können.“

Der CDU-Obmann im Bundestags-Gesundheitsausschuss der CDU/CSU, Dr. Georg Kippels, richtete den Blick auf die Zukunft und forderte, mehr in die Kinder- und Jugendmedizin zu investieren: „Wir müssen jetzt von der Sparsituation runterkommen, denn die Schraube ist überdreht worden“, so Kippels, „jetzt muss eine neue Schraube eingesetzt werden.“ Im Klartext: „Der Generika- aber auch der Forschungsbereich für Kinder-Arzneimittel muss auf neue Füße gestellt werden.“ Etwa dadurch, dass Arzneimittel für Kinder mit Orphan Drugs gleichgestellt werden, also mit Medikamenten gegen seltene Erkrankungen, für die es bessere Finanzierungsmöglichkeiten gebe. „Daraus gehen auch Schübe für Innovationen hervor“, so Kippels weiter, „den Schritt müssen wir machen. Das sind wir den Kindern und Jugendlichen schuldig.“

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