Herr Dr. Welte, gleich nach Veröffentlichung der Studiendaten zu Ihrem Kapsid-Inhibitor kam die Kritik auf, dass Ihr Unternehmen den weltweiten Zugang zu dem neuen Präparat behindern werde – aus Profiterwägungen. Haben Sie dafür Verständnis?
Dr. Robert Welte: Fehlendes Wissen hat schon oft zu Vermutungen geführt, die sich im Nachhinein als falsch herausgestellt haben. Wir haben schon auf der Welt-Aids-Konferenz erklärt, dass wir daran arbeiten, das HIV-Präparat möglichst schnell dort zur Verfügung zu stellen, wo es am dringendsten gebraucht wird. Wer Gilead kennt, den kann das nicht überraschen. Wir haben als eines der ersten Unternehmen den größten Teil unseres HIV-Portfolios über nicht-exklusive, freiwillige Lizenzvereinbarungen in ressourcenarmen Ländern zur Verfügung gestellt. Es war von Anfang an klar, dass wir das auch für dieses Arzneimittel tun würden.
Was sind nicht-exklusive, freiwillige Lizenzvereinbarungen?
Welte: Das bedeutet, dass wir anderen Herstellern die Produktion unserer patentgeschützten Präparate ermöglichen, damit sie sie kostengünstig herstellen und vertreiben können. Wir verdienen daran kein Geld. Neben dem HIV- ist auch das Hepatitis-Portfolio Teil dieser Abkommen, die es ermöglichen, große Mengen zu günstigen Preisen anzubieten. Damit erreichen wir rund 30 Millionen Menschen in 127 Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen. So haben wir das übrigens auch mit unserem antiviralen COVID-19-Arzneimittel in der Pandemie gemacht. Natürlich werden wir auch das neue HIV-Präparat in dieses System integrieren. Die ersten Verträge sind bereits unterschrieben – obwohl wir für die PrEP noch keine Zulassung haben.
Warum?
Welte: Das Arzneimittel ist zugelassen zur Behandlung der Menschen, bei denen alle anderen HIV-Therapien nicht mehr wirken, weil sich Resistenzen gebildet haben. Aktuell gibt es in keinem Land der Welt eine Zulassung zur Präexpositionsprophylaxe (PrEP), also zur Vorbeugung einer Infektion.
Aber die werden Sie beantragen?
Welte: Natürlich. Die Ergebnisse eines zweimal jährlich verabreichten Lenacapavir gegenüber der täglich einzunehmenden Standard-PrEP sind herausragend. Wir können damit Neuinfektionen mit HIV gegen null fahren. Das wäre sicher ein Wendepunkt in der Bekämpfung der HIV-Epidemie. Der nächste Schritt ist der Antrag auf Zulassung auch als PrEP.
Wann rechnen Sie mit der Zulassung?
Welte: Wir gehen davon aus, dass wir im 1. Halbjahr 2025 den Zulassungsantrag bei der EMA stellen können – die Erteilung der Zulassung hängt vom Verfahren ab. Aber wir schaffen jetzt schon die Voraussetzungen dafür, dass nach Zulassung keine Zeit verloren geht. Gilead hat mit sechs Pharmaherstellern gebührenfreie und freiwillige Lizenzvereinbarungen zur Herstellung und zum Vertrieb von generischem Lenacapavir in 120 Ländern mit hoher Inzidenz und begrenzten Ressourcen unterzeichnet – das sind hauptsächlich solche mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Die stehen in den Startlöchern, damit die Menschen nach Zulassung schnell Zugang zu dieser Arzneimittelinnovation bekommen.
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