
Klinische Studien zu Gen- und Zelltherapien finden vor allem in den USA und Asien und weniger in Deutschland bzw. Europa statt. Woran liegt das?
Dr. Marion Hitchcock, Bayer: Das hat vielfältige Ursachen. Ein wichtiger Grund: Europa und Deutschland sind bei vielen Dingen zu langsam – etwa was die Genehmigung von klinischen Studien angeht. Hinzu kommt: Die Forschungslandschaft im Bereich von neuartigen Biotechnologien ist sehr fragmentiert – meist gibt es nur lokale Technologiecluster und zu wenig Vernetzung. Besonders für junge Startups wäre außerdem wichtig, dass sie durch das hiesige Behörden-Dickicht begleitet werden. Und es mangelt an sogenanntem Venture Capital, auch bekannt als Wagniskapital – Deutschland und Europa sind hier zu risikoavers; bürokratische Hürden wirken auf Geldgeber:innen abschreckend. Deutschland liegt bei den Venture Capital-Investitionen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt allenfalls im Mittelfeld.
Provokativ gefragt: Ist es nicht egal, wo neue Therapien entwickelt werden – sobald sie zugelassen sind, kommen sie doch eh nach Europa?
Hitchcock: Pharmazeutische Forschung, Produktion und Versorgung sind eng verzahnt. Klinische Studien, die hierzulande laufen, bieten den Menschen frühen Zugang zu neuartigen Behandlungsansätzen – und ermöglichen gleichzeitig, dass Mediziner:innen von Anfang an Erfahrungen damit sammeln. Und in der Regel ist es schon so, dass ein Präparat vergleichsweise schnell dort zur Verfügung stehen kann, wo es auch entwickelt wurde. Die COVID-19-Pandemie hat außerdem deutlich gemacht, wie wichtig diversifizierte Lieferketten sowie eine gewisse Unabhängigkeit bei pharmazeutischer Forschung und Produktion sind. Doch dafür müssen die regulatorischen Rahmenbedingungen stimmen.
Die Bayer AG und die Charité – Universitätsmedizin Berlin wollen, unterstützt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem Land Berlin, gemeinsam ein Center for Gene and Cell Therapies errichten. Was ist das Ziel?

Hitchcock: Das Zentrum soll in erster Linie die sogenannte Translation verbessern. Wir haben eine sehr gute akademische Forschung in Deutschland, die leider nicht ausreichend in angewandte Therapien übersetzt wird. Das heißt: Es gelingt zu oft nicht, aus Erkenntnissen der Wissenschaft tatsächlich neue Behandlungsmöglichkeiten für die Patient:innen zu entwickeln. Das Center for Gene and Cell Therapies soll Startups sowie junge Biotech-Firmen fördern und unterstützen, um diese Translationslücke zu schließen. Zum einen werden wir kleinen, jungen Unternehmen die Infrastruktur bieten, die sie benötigen – ausgestattete Labore, Büro- und Gemeinschaftsflächen, wo sie ihre eigene Forschung vorantreiben und sich miteinander vernetzen können. Zum anderen stellen wir eine nach dem „Good Manufacturing Practice“-Standard zertifizierte Entwicklungs- und Produktionsanlage im gleichen Gebäude zur Verfügung. Das erlaubt es den Startups schon frühzeitig den Produktionsprozess mit entsprechenden Fachleuten vorzubereiten. Gerade im Bereich der Gen- und Zelltherapien ist die Produktion ja noch eine große Herausforderung, weil es sich um relativ neue Technologien handelt. Wir planen zudem, eine Plattform aufzubauen, wo wir aktiv Venture Capital-Firmen und Biotechs zusammenbringen.
Warum unterstützt ein Unternehmen wie Bayer überhaupt Startups?
Hitchcock: Bayer kann über dieses Joint Venture mit der Charité junge Firmen dabei unterstützen, ihre Innovationen in klinische Entwicklungsphasen zu bringen – und das gibt letztlich der gesamten Industrie Aufwind. Auch über das Bayer-eigene „Co.Lab“ in Berlin fördern wir dynamische, junge Unternehmen, indem wir Infrastruktur bereitstellen sowie ein Mentoren-Programm anbieten. Die Startups können sich von Expert:innen von Bayer beraten lassen, zum Beispiel zu den späten Phasen der Medikamenten-Entwicklung. Daraus kann später eine Zusammenarbeit entstehen – muss aber natürlich nicht.
Wie ist der aktuelle Stand beim Berlin Center for Gene and Cell Therapies: Wann können die ersten Startups einziehen?

Hitchcock: 2024 haben wir mit der Charité das Joint Venture gegründet und arbeiten nun eng zusammen, um das schnellstmöglich voranzutreiben. Wir planen den Baustart für den Sommer dieses Jahres. Unser Ziel ist es, dass wir Anfang 2028 den Betrieb aufnehmen können. Die Zeit drängt, denn der internationale Wettbewerb in dem Bereich ist schon heute groß – und die therapeutischen sowie ökonomischen Potenziale in diesem jungen Technologiefeld sind enorm.
Das Berlin Institute of Health hat im Auftrag des BMBF die Entwicklung einer Nationalen Strategie für gen- und zellbasierte Therapien koordiniert. Wie bewerten Sie diese Strategie?
Hitchcock: Das ist eine sehr wichtige Strategie, denn damit erfährt das Thema eine Priorisierung auf Regierungsebene. Außerdem hat sie viele zentrale Akteur:innen an einen Tisch gebracht – rund 150 Fachleute aus unterschiedlichen Stakeholder-Gruppen haben einen Fahrplan zur Verbesserung der Krankenversorgung und zur Stärkung des Forschungs- und Produktionsstandortes Deutschland im Bereich der Gen- und Zelltherapien erarbeitet. Das Strategiepapier umfasst beinahe 150 Seiten an politischen Empfehlungen entlang aller relevanten Bereiche – Forschung, Produktion, Versorgung, Kultur und Gesellschaft. Das ist ein wichtiges Signal, das zeigt, welches Potenzial dieses Technologiefeld dem Standort Deutschland bietet. Die Aufgaben, die vor der Bundesrepublik liegen, um mehr Wettbewerbsfähigkeit aufzubauen, sind mit dem Papier strukturiert worden – das ist die Voraussetzung, damit die nächsten Schritte so schnell wie möglich umgesetzt werden können.
Was sollte die künftige Bundesregierung tun, damit Deutschland ein attraktiverer Standort für die Forschung, Entwicklung und Herstellung von Gen- und Zelltherapien wird?

Hitchcock: Kurz zusammengefasst, brauchen wir in Deutschland – aber auch in Europa insgesamt – eine Kultur, die Innovationen und Startups fördert. Das beinhaltet unter anderem den Abbau von Bürokratie – um Genehmigungsprozesse zielgerichtet zu vereinfachen und um für Venture Capital-Firmen attraktiver zu sein, sodass sie hier investieren. Notwendig ist auch eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Industrie und Akademia sowie mehr Aufklärung in der Bevölkerung rund um Gen- und Zelltherapien und die Teilnahme an klinischen Studien. Tatsache ist: Uns muss es gerade mit Blick auf diese bahnbrechenden Technologien gelingen, vielversprechende Ergebnisse der Grundlagenforschung schneller zu den Patient:innen zu bringen. Das Berlin Center for Gene and Cell Therapies soll wie eine Art Pilotprojekt ein Momentum geben, von dem ganz Europa profitieren kann.
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