Klinische Forschung: Deutschland ist Studienmuffel

Mit 33 klinischen Studien pro 1 Million Einwohner:innen hat sich Deutschland schon lange aus der internationalen Spitzengruppe herauskatapultiert – ein Land wie Dänemark führt 6-mal mehr Studien durch. „Die Erosion des Pharma-Innovationstandorts Deutschland hat längst begonnen“ – so ist das in einer Studie nachzulesen, die der Pharmaverband vfa und das Beratungsunternehmen Kearney herausgegeben haben.

Klinische Studien sind Innovationsmaschinen. Sie bringen neue Therapien früh – noch vor Zulassung – ins Land, ermöglichen kranken Menschen Behandlungsmöglichkeiten, die es bisher nicht gab. Die medizinischen Teams bleiben am Puls der Zeit und sammeln Erfahrungen mit innovativen Arzneimitteln. Die Zahl der klinischen Studien ist auch ein Gradmesser, wie innovativ ein medizinischer Standort ist – und bleiben wird. Forschung und Entwicklung (F&E) schafft die Grundlage für eine bessere Medizin von morgen.

T-Zellen greifen Krebszellen an
CAR-T-Zelltherapie: Innovative Krebsimmuntherapie. Foto: ©iStock.com/wildpixel

Beispiel: CAR-T-Therapien bei bestimmten Blutkrebserkrankungen; sie wurden 2018 in Deutschland eingeführt. Bereits Jahre vorher aber konnten Menschen im Rahmen klinischer Untersuchungen davon profitieren. CAR-T ist mehr als nur ein neues Krebsmedikament – aus dem Blut des Erkrankten wird ein Cocktail entwickelt, der dem eigenen Immunsystem sagt, was es zu tun hat, um die Krebszellen zu bekämpfen. Die ersten Menschen, die in Deutschland damit behandelt wurde, waren „durchtherapiert“; soll heißen: Nichts hatte ihren Krebs stoppen können. Ihre Lebenserwartung? Rund ein halbes Jahr. CAR-T hat das verändert – viele der damit behandelten Menschen sind längst ins normale Leben zurückgekehrt. Doch gerade im Hinblick auf neuartige Zell- und Gentherapien finden Studien zunehmend nicht mehr in Deutschland statt: „95 Prozent der gesamten klinischen Forschung finden in den USA und Asien statt und weniger als 4 Prozent bei uns. Der Zug ist abgefahren“, hatte Roche-Chef Professor Dr. Hagen Pfundner auf einer Veranstaltung zum Biotechnologie-Standort Deutschland erklärt.

Klinische Studien: Deutschland verliert massiv an Boden

Vergleicht man die Studienaktivität verschiedener Länder, verliert der hiesige Standort massiv an Boden (s. Grafik): In Dänemark sind es fast 200 laufende Studien pro 1 Millionen Einwohner:innen, das kleine Belgien folgt mit 147. Auch Israel spielt in der Spitzenliga (118/ 1 Mio.) und in Spanien sind es fast doppelt so viele wie hierzulande (62). Das ist in der Studie „Pharma-Innovationsstandort Deutschland“ nachzulesen.

„Trotz flächendeckender Gesundheitsinfrastruktur fanden im Jahr 2021 in Deutschland nur 33 Studien pro 1 Million Einwohner statt“, so die Autor:innen. Das könnte den Bedeutungsverlust im internationalen Vergleich weiter verschärfen: „Damit drohen Wissen, Arbeitsplätze und Kapital verloren zu gehen, das zur Entwicklung weiterer Innovationen eingesetzt werden könnte.“ In der Studie wurden auch Führungskräfte aus dem F&E-Bereich befragt, wie sie die Lage einschätzen. Etwa 2/3 von ihnen bestätigten, „dass Deutschland als Pharma-Innovationsstandort bereits in den letzten 5 Jahren für ihre Unternehmen an Relevanz verloren hat.“

Mehr klinische Forschung: Beispiel Dänemark

Gesundheitswesen: Digitalisierung umsetzen
Digitalisierung: Durchführung von dezentralen klinischen Studien. Foto: ©iStock.com/ra2studio

Das zu ändern, wäre gar nicht schwer: Viele Länder machen das sehr erfolgreich sehr anders als Deutschland. Es gibt beim Blick über die Grenzen jede Menge Masterpläne, die man nur abschreiben müsste. Und umsetzen.

Wie es gehen kann, zeigt Dänemark. Die Nordeuropäer:innen haben sich zum Ziel gesetzt, weltweit führend bei der Durchführung von dezentralen klinischen Studien (Decentralized Clinical Trials, DCT) zu werden. Das sind Studien, die durch Telemedizin bzw. mobile oder lokale Gesundheitsdienstleister durchgeführt werden. Sie sind – anders als im klassischen Studien-Setting – nicht an einen spezifischen Ort gebunden. Sie setzen auf das Potenzial der Digitalisierung. Ihnen gehört die Zukunft: Sie gelten als schneller in der Durchführung, sie benötigen weniger Personal (Fachkräftemangel!) und dürften auch günstiger sein. Die dänischen Erfolgsfaktoren sind ein stark digitalisiertes Gesundheitssystem, eine hohe Bereitschaft zur Teilnahme an DCTs sowie eine klare Zielsetzung und ein konkreter Fahrplan zur Umsetzung.

Fahrplan zurück an die Spitze der klinischen Forschung

Und: Andere Länder sind schneller. „Die Fähigkeit, Studien an den beteiligten Zentren schnellstmöglich durchzuführen, bildet den Kern erfolgreicher Arzneimittelentwicklung im ´race to market`“, heißt es in der vfa-Veröffentlichung. Denn klinische Studien kosten viel Geld; sie sind in den Milliarden-Summen, die für die Entwicklung neuer Arzneimittel investiert werden müssen, der größte Batzen. Entsprechend groß ist das Interesse der Unternehmen, bei den Stellschrauben zu drehen, die Studien verkürzen, ohne dass dabei die wissenschaftliche Qualität und die Sicherheit leidet. Dazu gehört in Deutschland die Bürokratie: Es gibt kein Mehr an Sicherheit, wenn eine zweistellige Zahl an Ethikkommissionen ein und dasselbe überprüfen – der deutsche Standort braucht eine länderübergreifende Harmonisierung. Das gleiche gilt für den Datenschutz. Beklagt wird auch, dass hierzulande zu wenig über den Nutzen von Studien aufgeklärt wird. Und der Stand der Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen – man traut es sich kaum noch zu schreiben – hilft auch nicht.

Fahrplan zurück an die Spitze der klinischen Forschung
Forschungsstandort Deutschland: Es gibt viel zu tun. Foto: ©iStock.com/gorodenkoff 

Insgesamt 14 Punkte haben die Studienautor:innen zusammengetragen, um Deutschlands klinische Forschung unter Dampf zu setzen. Noch gilt: „Deutschland beheimatet erfolgreiche Pharma- und Chemieunternehmen sowie Partner in der medizinischen und industriellen Biotechnologie und kann in der Biotechnologie auf eine hervorragende Forschungslandschaft aufbauen”, so der Zukunftsrat des Bundeskanzlers. Damit das so bleibt, muss die Bundesrepublik nun aber dringend vom Reden ins Machen kommen. Es gibt viel zu tun.

Weiterführende Links:

Vfa/ Kearney: „Pharma-Innovationsstandort Deutschland”

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