2016 war die Welt noch irgendwie in Ordnung. Bei der Zahl der von Pharmaunternehmen durchgeführten klinischen Arzneimittelprüfungen lag Deutschland weltweit auf Platz 2. 641 Studien wurden damals gezählt, 2021 waren es noch 589 – ein Rückgang um fast 10 Prozent. Die Grafik zeigt: Deutschland ist weltweit nur noch auf Platz 6. Hinter den USA – dem ewigen Weltmeister in dieser Disziplin – haben sich mittlerweile China, Spanien, Großbritannien und Kanada dazwischengeschoben.
Nicht weiter aufregend, könnte man meinen. Doch das ist ein Trugschluss: Klinische Studien sind „entscheidend für Gesundheitsversorgung und den Fortschritt der Medizin“, heißt es im Positionspapier der Arbeitsgruppe Klinische Forschung in Bayern, die das Staatsministerium für Wirtschaft im Freistaat herausgegeben hat und an dem 12 pharmazeutische Unternehmen und Verbände mitgearbeitet haben. Denn sie geben für die Gesundheitsversorgung kranker Menschen wichtige Impulse, um neue Therapiestandards früh zu etablieren. Bei Erkrankungen wie Krebs sind neue Arzneimittel oft eine letzte Chance. Für Menschen mit seltenen Erkrankungen ist es oft das erste Mal, dass sie überhaupt ursächlich behandelt werden können.
Klinische Studien: Gradmesser für den medizinischen Fortschritt
Soweit der medizinische Nutzen. Aber die Zahl der klinischen Studien ist auch ein Gradmesser für die Lebendigkeit eines Wissenschaftsstandortes. Wenn der Anspruch ist, eines der besten Gesundheitssysteme der Welt zu betreiben, ist die sinkende Attraktivität des Forschungsstandortes kein gutes Signal. Das gilt vor allem, wenn man sich anschaut, warum Deutschland an Boden verliert.
„Im internationalen Vergleich bestehen in Deutschland gute Voraussetzungen für die klinische Forschung (u.a. hohe Bevölkerungsdichte, hohe Qualität der Universitäten und Gesundheitseinrichtungen)“, heißt es in dem Positionspapier. Zu was in Deutschland ansässige Wissenschaftler:innen und Gesundheitsunternehmen fähig sind, ließ sich in der Covid-19-Pandemie beobachten. Doch mit lediglich 500 Studienteilnehmer:innen auf 1 Millionen Einwohner zeigt sich der Nachholbedarf; in Dänemark ist die Zahl fast doppelt so hoch (970). Den Rekord hält Estland (3.080 auf 1 Million). In dem Papier fordern die Autor:innen deshalb mehr für die Gesundheitskompetenz und die Aufklärung der Patient:innen und Ärzt:innen zu tun, um die Bereitschaft zu fördern.
Klinische Studien: Musterland Spanien
Klinische Studien finden in den seltensten Fällen nur in einem Land statt. Und sie sind in der Entwicklung neuer Arzneimittel der größte Kostenfaktor. Deshalb haben die Unternehmen ein Interesse daran, dass die administrativen Vorbereitungen schnell und problemlos ablaufen. „Jeder Tag über den geplanten Endtermin einer klinischen Studie hinaus führt zu zusätzlichen Kosten, welche durchaus bis zu 1 Mio. Euro pro Tag betragen können“, heißt es in dem Papier des Staatsministeriums. „In Ländern mit langen – administrativ bedingten – Start-Up-Zeiten steht somit ein kürzerer Zeitraum für die Rekrutierung zur Verfügung.
Damit dürfte Deutschland gemeint sein: Die föderalen Strukturen, die verschiedenen in den Ländern verankerten Ethikkommissionen, die alle dasselbe überprüfen und auch mal zu unterschiedlichen Voten kommen – all das verschlingt viel Zeit. Und während Deutschland sich noch verwaltet, läuft in Ländern wie Spanien bereits die Rekrutierung. Denn dort wurde bereits 2016 der Ansatz „eine Studie, ein Antrag“ umgesetzt und es genügt das Votum einer einzigen Ethikkommission. Außerdem gibt es Musterverträge zwischen dem Initiator der Studien und denen, die sie durchführen – standardisierte Prozesse, die beschleunigend wirken. Und auch die Information für die Patient:innen ist einfacher (durchschnittlich 10 Seiten; in Deutschland: 25). Auch in Großbritannien setzt man auf einfachere Prozesse.
Klinische Studien: Mehr Telemedizin und Telemonitoring
Auch bei dem Einsatz der Telemedizin und des Telemonitorings könnte sich in Deutschland mehr tun. Denn klinische Studien verlangen von den Teilnehmer:innen viel ab: „Die Anzahl der Visiten am Prüfzentrum übersteigt oft die Besuchsfrequenz einer Standardbehandlung.“ Viel Potenzial könnte sich durch den Einsatz digitaler Systeme der Datenerfassung ergeben (wie Apps oder E-Devices), doch die Vorgaben zum Schutz von Gesundheitsinformationen „sind teilweise sehr rigide“. Datenerhebung, Datenverarbeitung, Datentransfer – hier muss sich noch viel tun. Denn: „Der Trend hin zu dezentralen (oder virtuellen) klinischen Prüfungen wurde auch durch die Pandemie beschleunigt. Da Patienten das Prüfzentrum nicht für Visiten aufsuchen konnten, wurden die Visiten durch Telefonate und Videovisiten ersetzt. Für solche dezentralen klinischen Prüfungen können im Vergleich zu zentral durchgeführten Prüfungen mehr Patientinnen und Patienten aus einer größeren und diverseren Population und mit einer breiteren regionalen Abdeckung rekrutiert werden“, so das Positionspapier. Damit erhöhten sich Forschungsgeschwindigkeit und die Entwicklung von Innovationen „bei gleichbleibend hoher Qualität.“
Konkrete Ergebnisse gibt es auch schon: Im März hat das Bayerische Zentrum für Krebsforschung (BZKF) bekannt gegeben, dass es sich mit der „Arbeitsgruppe von pharmazeutischen Unternehmen mit Schwerpunkt Onkologie“ auf ein einheitliches Vertragsmuster für klinische Studien in der Onkologie geeinigt hat. Beteiligt sind die 6 bayerischen Universitätsklinika sowie Pharmaunternehmen mit einem Standort in Bayern (Amgen, Bristol Myers Squibb, Ipsen, MSD Sharp & Dohme, Novartis, Roche, Servier). Ziel ist die Beschleunigung eines Vertragsabschlusses bei der Durchführung klinischer Studien und damit die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit des Forschungsstandortes Bayern. Das soll auch dazu führen, dass das Studienangebot für Patient:innen ausgeweitet werden kann.
Das wäre eine gute Nachricht: Für Menschen mit Krebs, denen sich neue Perspektiven eröffnen. Für die sie behandelnden Mediziner:innen, die eine bessere Medizin anbieten können. Und für die Forscher:innen, die weiter Spitzenforschung betreiben können.
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