Nachgezählt hat es wahrscheinlich niemand, aber mehr Krebsexpert:innen auf den Quadratmeter gab es an diesem Tag in Deutschland wohl nur an dem Tagungsort des Krebsgipfels in Berlin. Unter dem Dach von Vision Zero versammeln sich diejenigen, die in diesem Land mit Tumorerkrankungen zu tun haben: Mediziner:innen, Menschen, die die Forschung vorantreiben, Betroffene und ihre Vertreter:innen, auch forschende Pharmaunternehmen. Sie eint ein Ziel: „Jeden Stein herumdrehen, die Digitalisierung des Gesundheitswesens vorantreiben, Patienten konsequent in den Mittelpunkt unseres Handelns stellen und auf der Basis des gegenseitigen Respekts alle Kräfte im Kampf gegen Krebs bündeln“, wie es in der Tagungsbroschüre heißt. Der Anspruch: Jeder vermeidbare Krebsfall ist einer zu viel.
Zum Start: Eine „Vision Zero für die AfD“

Doch bevor es mit der Bilanz der Nationalen Dekade losging, lag Mit-Moderator Dr. Eckart von Hirschhausen etwas anderes auf der Seele. Im Hinblick auf das starke Abschneiden rechter Kräfte bei der Europawahl stellte er fest: „Die AfD ist extrem wissenschaftsfeindlich, sie leugnet auch den Klimawandel. Immer mehr Menschen aus der Wissenschaft trauen sich nicht mehr, in die Öffentlichkeit zu gehen – aus Angst vor persönlicher Gewalt. Das hat System. Wenn wir also über Vision Zero in der Onkologie reden, dann möchte ich auch über Vision Zero für die AfD reden.“ Dafür gab es viel Applaus.
Im Jahr 2019 wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die Nationale Dekade aus der Taufe gehoben. Die damals festgelegten Ziele:
- Anteil früh erkennbarer, heilbarer Krebserkrankungen messbar erhöhen.
- Translation von Ergebnissen aus der Forschung in die Versorgung und zur Entwicklung neuer Therapien beschleunigen.
- Zugang zu Innovationen für Patient:innen – unabhängig vom Wohnort.
- Lebensqualität der Betroffenen verbessern und ihre Partizipation stärken.
- Nächste Generation von Krebsforschung ausbilden und weltweite Beteiligung am Kampf gegen Krebs („Global Health“).
Die Patient:innen als Forschungspartner

Ein ehrgeiziges Programm, aber gemessen an den rund 500.000 Neudiagnosen pro Jahr auch ein überfälliges. Der Onkologe Professor Dr. Michael Hallek sieht die Dekade weitgehend „on track“: „Wie immer in der Forschung arbeiten wir hier an der Grenze des menschlichen Wissens, deshalb muss man das so organisieren, dass wirklich für alle mehr herauskommt.“ Dazu wurde zum Beispiel das Netzwerk der Nationalen Centren für Tumorerkrankungen geschaffen (NCT), wo Forschung und Medizin unter einem Dach arbeiten, um „die Wege vom Labor zum Krankenbett“ zu verkürzen, wie das BMBF schreibt. Und bei denen es darum geht, „die Patienten als Forschungspartner zu integrieren“, so Hallek.
Es ist schon fast ein Klassiker deutscher Innovationskultur: „In der Übersetzung von Erkenntnis zu Produkt – da fehlt es. Unsere Ergebnisse werden meistens in anderen Ländern veredelt und dann müssen wir sie teuer reimportieren.“ Bei der Kennzahl von klinischen Studien pro Einwohner:innen „sehen wir wenige Länder, die schlechter sind als wir.“ Für die kommenden 5 Jahre gilt es laut Hallek, die Beteiligung der Patient:innen auszubauen, „weil sie inspirierend ist“, und fordert von der Politik Bürokratieabbau: „Es muss klar werden, dass Bürokratie letztlich schwere, auch tödliche Nebenwirkungen hat.“ Außerdem müsse die Zusammenarbeit mit der forschenden Pharmaindustrie vertieft werden. „Wir wollen ja Produkte schaffen – und dann muss man es auch machen.“
Die Perspektive der Patient:innen
Hedy Kerek-Bodden ist Bundesvorsitzende vom Haus der Krebs-Selbsthilfe und Mitglied im Strategiekreis der Nationalen Dekade. Sie bezeichnet sich selbst als „Langzeitüberlebende.“ Vor mehr als 20 Jahren erhielt sie ihre Brustkrebsdiagnose, die Prognose war zunächst nicht gut. Dass sie noch lebt, „verdanke ich den Fortschritten der Forschung und Medizin.“ Sie hofft, dass die zweite Halbzeit dafür genutzt wird, das bisher Erreichte auszubauen – und hier konkret: „Der weitere Ausbau der Patientenbeteiligung – das ist ja auch ein Stück Demokratie.“
Professor Dr. Michael Baumann, vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und Ko-Vorsitzender im Strategiekreis der Dekade, sieht erheblichen Nachholbedarf bei Krebsprävention und -früherkennung. „Wenn wir uns den Raucherschutz anschauen, den Impfschutz bei HPV – dann kann man schnell sehen: In diesem Bereich sind wir nicht toll.“ Deshalb kam die Idee des Nationalen Krebspräventionszentrums auf, dass er mittelfristig nicht nur in Heidelberg sieht, sondern als Verbund mit verschiedenen Standorten im Land. „Wir wissen, dass mit der Primärprävention 40 Prozent der Krebserkrankungen verhindert werden können.“ Am Wissen liegt es also nicht – es hapert an der Umsetzung von entsprechenden Programmen.
Die Digitalisierung der Medizin als „Sollbruchstelle“

Professor Dr. Hagen Pfundner, Vorsitzender der Roche Deutschland Holding, sieht eine wesentliche Stellschraube in der Digitalisierung der Medizin, um im Kampf gegen Krebs voranzukommen. „Das ist eine der Sollbruchstellen.“ In Deutschland ist die Verarbeitung von Gesundheitsdaten „extrem fragmentiert“ und durch einen falsch verstandenen Datenschutz stark behindert. Bei Vision Zero ist es hingegen Konsens, dass die Patient:innen einen Anspruch darauf haben, dass ihre Befunde bei maximal möglicher Sicherheit im Kosmos des medizinischen Betriebes genutzt werden können – einfach, weil dann eine bessere Medizin möglich ist bis hin zu mehr Lebensqualität und besseren Überlebensraten.
Wie geht es nun weiter in den kommenden 5 Jahren? Professor Hallek plädierte für mehr Anspruch: „Krebs ist ein großer Gegner. Wir müssen den Anspruch entwickeln, immer an der Spitze mitzuspielen; also führend zu sein in der Forschung, führend in der Entwicklung neuer Konzepte und führend in der Arzneimittelentwicklung für den globalen Markt.“ Und zitierte die Dirigenten-Legende Leonard Bernstein: „Man muss groß denken, kleiner wird’s von selbst.“
Hirschhausen: „Wo ein Wille ist, steht auch einer im Weg.“
Moderator Hirschhausen wäre nicht Hirschhausen, wenn er sich nicht auch als „Agent provocateur“ betätigen würde. Aus seiner Sicht sind die Bemühungen für mehr Prävention gescheitert, weil mehr Wissen nicht automatisch zu einem gesünderen Lebensstil führt. Deshalb fordert er mehr Kommunikationsforschung um die Frage: Was verleitet Menschen, ihr gesundheitsgefährdendes Verhalten zu ändern? „Es heißt immer: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Ich würde sagen: Wo ein Wille ist, steht auch immer einer im Weg.“
Stichwort Kommunikation – die Debatte endete mit einem Schlusssatz von Patientenvertreterin Hedy Kerek-Bodden: „Wichtig für uns Patienten ist neben den Befunden das Befinden – und mit dem guten Gefühl, dass mit der Implementierung der Nationalen Dekade gegen Krebs etwas Großes geschaffen wurde.“
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