Die GKV erwartet Milliardenlöcher, der Minister kündigt höhere Beitragssätze an. Eine „maßgebliche Säule des sozialen Friedens“ wird in der Öffentlichkeit an die Wand geredet. Foto: ©iStock.com/deberarr
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Laut sein: Für 4 Millionen Menschen mit seltenen Erkrankungen

Es ist eine Initiative von jungen Menschen mit einer seltenen Erkrankung: Der LOUDRARE e.V. hat eine Kampagne gestartet. „Die Stimmen von 4 Millionen Betroffenen in Deutschland müssen gehört werden. Das ist die Grundlage für mehr gesellschaftliche Akzeptanz, frühere Diagnosen, engagierte Ärzte, gute Aufklärung, Zugang zu Informationen und Therapien und weniger Stigmatisierung oder Diskriminierung.“ Auf einer Website und in den sozialen Medien erzählt der Verein „keine Kranken-, sondern Lebensgeschichten“ – die zeigen, „worum es wirklich geht. Mensch sein.“
Mensch sein.
Worum es wirklich geht? Mensch sein. Foto: ©iStock.com/Vadym Pastukh

„Manchmal glaube ich, ich hab ein bisschen was von Beethoven“, sagt Samuel. „Der konnte seine Noten irgendwann nicht mehr richtig hören – ich lesen.“ Mit 16 nahm seine Sehkraft ab – heute gilt der 25-Jährige „nach deutschem Recht als blind. Wenn mich jemand fragt: Ich sehe die Welt mit einem großen Fleck vor der Linse.“ In einem Film, der Teil der „Mensch #wiedu-Kampagne“ ist, erklärt er: „Letztendlich fängt alles damit an, dass du es akzeptierst.“ „Zu merken, dass du daran wachsen kannst – das ist etwas, was mich wie nichts anderes aufgebaut hat.“ Er spielt seit seiner Kindheit Klavier – komponiert inzwischen eigene Stücke. Er war eine Zeit lang Teil des Para-Ski-Alpin-Nachwuchsteams; während seines Studiums gründete er das Social Start-Up BLINC, um Unternehmen dabei zu unterstützen, Menschen mit Low Vision besser zu integrieren. Er selbst lebt mit der „Leberschen Hereditären Optikus Neuropathie“ (LHON) – verursacht durch eine Mutation im Erbgut, die sich auf den Sehnerv und damit auf das Sehvermögen auswirkt. Der junge Mann trägt weder Binde noch Stock – beides brauche er nicht. „Ich bin nicht meine Erkrankung. Ich bin Samuel – und ein Mensch wie du.“

LOUDRARE: „Unser Maßstab ist die Community. Jeder kann mitmachen.“

Alle Menschen – ob von einer seltenen Erkrankung betroffen oder nicht – haben „Träume, Hoffnungen, Ängste, Wünsche und noch vieles mehr.“ LOUDRARE will sich auf diese Verbindung fokussieren – und „nicht auf das, was zu trennen vermag“. Durch Lebensgeschichten wie die von Samuel.

Die Verantwortlichen wollten „nicht nur die x-te Kampagne machen.“ Unterstützt von Pharmaunternehmen, medizinischen Institutionen, Patientenorganisationen, Agenturen und weiteren Partnern geht es darum, „gemeinsam etwas Großes, eine Bewegung“ zu starten – und laut zu sein für Menschen mit seltenen Erkrankungen. Im Herzen der Kampagne stehen die Betroffenen. Sie können selbst aktiv werden und sich engagieren. Auf einem „Online Festival“ am 24. und 25. Februar 2024 tauschten sie sich untereinander und mit Expert:innen aus. LOUDRARE hat eine einzigartige digitale Community aufgebaut – jede Woche übernehmen andere Betroffene die Social-Media-Kanäle auf Instagram, Youtube, Facebook und TikTok.

LOUDRARE: „Unser Maßstab ist die Community. Jeder kann mitmachen.“
Alle Menschen – ob von einer seltenen Erkrankung betroffen oder nicht – haben Wünsche. ©iStock.com/Prostock-Studio

Wie die 26-jährige Karo, die mit der Nervenkrankheit Friedreich Ataxie lebt, welche den Bewegungsapparat betrifft und zum Beispiel Koordination und Gleichgewicht einschränken kann: Eins ihrer Herzensthemen? Online-Dating. Fotos von sich mit Hilfsmitteln zu veröffentlichen: Das kann eine Hürde auf vermeintlich oberflächlichen Plattformen sein. Aber sie findet: „Es lohnt sich, das Ganze mal auszuprobieren“. Und es lohnt sich „durchzuhalten“ – denn man könne gewinnen; sie selbst hat ihren Mann dort kennengelernt.

Und auch die Follower:innen und Mitlesenden werden aktiv eingebunden. „Was wünschst du dir von der Gesellschaft im Umgang mit deiner Erkrankung und insgesamt mit seltenen Erkrankungen?“, heißt es etwa in einem Instagram-Post. Die Antworten: vielfältig. „Sie nicht in Frage zu stellen, weil die Symptome und Einschränkungen nicht auf den ersten Blick zu sehen sind“, schreibt da jemand. „Mich mit meist sehr gut gemeinten, aber in der Regel wenig hilfreichen Ratschlägen zu verschonen“. Ein:e Nutzer:in fordert „mehr gut bezahlte Arbeitsplätze, die auf Diagnosen zugeschnitten sind“ – für mehr Sichtbarkeit und Anerkennung für Menschen mit Behinderung. „Ich wünsche mir, dass gefragt wird anstatt nur gestarrt“, als „eigenständiger Mensch wahrgenommen“ zu werden, „der für sich selbst sprechen kann“, so eine andere Betroffene. Wieder eine andere spricht sich dafür aus, „dass wir alle erkennen, wie wundervoll diese Vielfalt ist“. Sie träumt von „Begegnungen, in denen wir uns zuerst als Menschen sehen, in all unserer Pracht und mit all unseren Unterschieden. Wo die erste Frage nicht ‚Was hast du denn da?’ ist, sondern ‚Wer bist du? Erzähl mir von dir.’“

Seltene Erkrankungen sichtbar machen: Viel zu tun

Diese Antworten geben nur einen kleinen Einblick darin, wieviel sich in Gesellschaft und Politik noch ändern muss, damit „selten irgendwann ganz normal ist“, wie LOUDRARE es formuliert.

Aktuell dauert es durchschnittlich 6 Jahre bis zu einer Diagnose. Auch Conny erging es so – heute weiß er, dass er Morbus Fabry, eine genetisch bedingte Stoffwechselstörung, hat. Sie löst bei ihm diverse Schmerzen aus – „meine Hände und Füße fühlen sich an, als würden sie brennen, meine Knochen, als würden sie brechen.“ Inzwischen habe er gelernt, wie er mit den Dauerschmerzen am besten umgehen kann: auf Dinge fokussieren, die ihm Spaß machen und volle Konzentration erfordern. Bouldern und Klettern gehören dazu.

Seltene Erkrankungen sichtbar machen: Viel zu tun
Seltene Erkrankungen sind viele. Foto: ©iStock.com/nambitomo

Trotz medizinischer Fortschritte gibt es für 95 Prozent der rund 8.000 seltenen Erkrankungen noch keine zugelassene Therapie – die Forschung hat noch viel Arbeit vor sich.

Und auch über das rein Medizinische hinaus stehen Betroffene vor einigen Herausforderungen. Bei Inga hat sich „durch verschiedene Erlebnisse im Krankenhaus, unter anderem Gewalt und Not-OP“, eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickelt. Sie habe „oft Auseinandersetzungen mit Krankenkassen, mit dem Arbeitsamt“. „Es gibt echt Tage, da habe ich das Gefühl, gegen alles kämpfen zu müssen. Gegen meinen eigenen Körper, aber vor allem gegen Ärztinnen, Behörden, Vorurteile, Kommilitonen, die Uni“. Doch ihre Erkrankung „Familiäre Adenomatöse Polyposis coli“ (FAP) habe geleistet, „dass ich ich werden kann: offener, selbstbewusster.“ Bei FAP treten Schleimhautpolypen hundert- bis tausendfach im Dickdarm auf – das Krebsrisiko liegt bei 100 Prozent. Seit sie 18 Jahre alt ist, hat sie daher keinen Dickdarm mehr, sondern einen künstlichen Darmausgang. „Habe ich Tage, an denen ich auch mal nicht weiterweiß oder weiterkomme? Klar. Sogar viele! Aber ich habe auch jede Menge guter Gründe mir zu sagen: Scheiß drauf! Denn ich bin nicht meine Erkrankung. Ich bin Inga und ein Mensch wie du.“

Weiterführende Links:
LOUDRARE

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