
„Wir sind dazu verdammt“, meint Stephan Grävinghoff, der beim forschenden Unternehmen Lilly das Key Account Management leitet. „Dazu verdammt, dass wir die Chancen in der Online-Medizin dazu nutzen, Effizienzgewinne zu generieren und Versorgungslücken zu schließen.“ Und nein, er wollen nicht die „Treibsandthemen“ diskutieren, sondern nach vorne schauen. Mit Treibsandthemen meint er wohl auch die Litanei darüber, was in Deutschland alles nicht geht. Schließlich, so der Senior Director, gehe es darum, die Akzeptanz und das Vertrauen in diese Technologie zu stärken; kurz: das Thema positiv zu besetzen. Mit Klageliedern ist so etwas ja noch nie gelungen.
Professor Dr. Volker Ulrich, Volkswirt an der Bayreuther Universität, sieht das auch so: Es gehe darum zu zeigen, welche realen Möglichkeiten es jetzt schon gibt mit digitaler Technik die Versorgung kranker Menschen auf ein nächstes Level zu heben. Auf der digitalen Roadmap steht Deutschland zwar erst am Anfang – und ist von dem Ziel, einen Datenraum für Gesundheit zu schaffen noch weit entfernt. Der ist für den Wissenschaftler aber die Grundlage dafür, dass sich die Behandlung für die Menschen verbessert. „Ich höre viel über die Vorteile der Digitalisierung für die Krankenkassen, für Start-ups, für Pharmaunternehmen und andere Player.“ Für ihn ist das nicht die entscheidende Frage. „Die entscheidende Frage ist: Was bringt das den Patientinnen und Patienten?“ Was ihn freut ist, „dass die Bundesregierung Dampf macht. Die Digitalisierungsgesetze sind sicherlich ein Schritt nach vorne.“
Digitalisierung mit konkretem Nutzen für die Patient:innen – das ist das eine. Sie kann aber auch ein Schlüssel sein, um den Fachkräftemangel im Gesundheitsbereich besser zu managen. Dazu ein paar Zahlen:
- Bis zum Jahr 2035 können rund 1,8 Millionen offene Stellen im Gesundheitsbereich nicht besetzt werden.
- Nur 30 Prozent der Ärzt:innen und Pflegekräfte können sich vorstellen ihren Beruf bis zur Rente auszuüben; 72 Prozent beklagen körperliche Belastung.
- Rund die Hälfte der im Gesundheitswesen Tätigen vermissen gesellschaftliche Anerkennung.
Online-Medizin: Bessere Gesundheit für alle?

Die Chancen, die Ulrich in der Online-Medizin sieht, sind gewaltig. Denn über die personellen Aspekte hinaus schafft die Technologie neue Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten, macht schnellere und genauere Diagnosen möglich, ermöglicht es den Menschen, ihre Gesundheit besser selbst zu gestalten und erleichtert die Kommunikation zwischen den Akteuren. Das Versprechen der Online-Medizin lautet: Bessere Gesundheit für alle.
Alles nur Theorie? Fabian Lechner vom Institut für Künstliche Intelligenz in der Medizin, Marburg, würde hier wahrscheinlich „Einspruch“ rufen. Der Wirtschaftsinformatiker sieht in der Künstlichen Intelligenz (KI) nicht den Allheilsbringer, aber ein „Mittel zum Zweck“. Basierend auf Large Language Models (LLM, Große Sprachmodelle) lassen sich medizinische Informationen besser und schneller strukturieren, kategorisieren und interpretieren. Sie sind Grundlagen von Apps wie Ada. „Das ist ein Symptom-Checker, der auf Grundlage jahrelanger Forschung in der Lage ist, alle möglichen Krankheiten zu erkennen.“ Eine App als erste Anlaufstelle zur Diagnose einer Erkrankung? Eine Studie belegt, dass sie ähnlich genau ist, wie die Diagnose einer echten Ärztin oder eines echten Arztes. Nein, es ist nicht die Idee, dass in Zukunft eine App die Fachleute ersetzt. Aber eine Möglichkeit, Versorgungsprozesse effizienter zu gestalten, ist das Tool allemal.
Flaschenhals Notaufnahme
Dass Notaufnahmen in Deutschland überlastet, weil überrannt sind, ist allgemein bekannt. Fast 99 Prozent von ihnen leiden unter Personalmangel, zwei Drittel sehen sich als chronisch überlastet, erzählt Lechner. Allein in Marburg sind es über 40.000 Fälle im Jahr. Genaue Zahlen gibt es nicht, aber die Menschen, die dort arbeiten, sagen: Bis zu 80 Prozent der Menschen, die in die Notaufnahme kommen, sind gar keine Notfälle. Lechners Lösung: Zusammen mit 3 Kolleg:innen hat er eine alte Telefonzelle mit KI ausgestattet (Sie mussten es zunächst als Kunstprojekt tarnen, „sonst hätte es uns die Ethikkommission gestrichen“). Die ist in der Lage, „durch ein Gespräch Diagnostik zu erzeugen.“ „DokPro“ ist der Telefonzelle mittlerweile entwachsen und soll bald seine berufliche Karriere in der Notaufnahme in Marburg starten. „Wir haben damit in Zukunft die Möglichkeit, Menschen mit einem virtuellen Arzt, einem Avatar, der mithilfe von KI gesteuert ist, zu triagieren, zu prä-diagnostizieren und eine Anamnese zu machen.“ Das medizinische Personal bleibt „natürlich erhalten. Wir wollen lediglich die Zeit verkürzen“, so Lechner. Das Gute ist: Ein solches System ist hochmobil – könnte also überall eingesetzt werden.
CUBE: Medizinische Versorgung dort bereitstellen, wo die Menschen sind

Versorgung dahin bringen, wo sie gebraucht wird: Das war die Idee, die hinter dem CUBE von Helios steht. Helios ist eine der führenden Krankenhausbetreiber Europas und als solcher wissen sie dort: Schon heute gibt es in Deutschland weiße Versorgungsflecken, wo medizinische Dienstleistungen rar gesät sind. Und wissen auch: „Die Situation der Unterversorgung wird sicher nicht besser werden“, wie Chief Operating Officer Enrico Jensch meint. „Aber die gute Nachricht ist: Die Versorgungsengpässe können wir bedienen.“ Der CUBE ist eine mobile Praxis (fast) ohne Ärzt:innen. Fast, weil diese per Telemedizin zugeschaltet werden können. Über einen Symptom-Checker geht es zu der Frage: Braucht es eine ärztliche Meinung? Ist das der Fall, kommt der CUBE ins Spiel, der aufs Land zu den Menschen fahren kann – an Bord: medizinische Fachangestellte. Zugeschaltet werden können dann Fachärzt:innen aller Fachrichtungen. Für die Menschen bedeutet das: Eine schnelle und frühe Gewissheit darüber, was als nächstes passieren muss, um gesund zu bleiben oder zu werden. „Wir haben dann keine Unterversorgung mehr, niemand muss in die nächste Notaufnahme rennen oder Monate warten, bis der nächste Arzt Zeit“, so Jensch.
Was dem CUBE das Leben schwer macht? „Wir scheitern an der Regulatorik, unter anderem, weil viele Kassenärztliche Vereinigungen die Versorgungsnotwendigkeiten so nicht sehen“, sagt Jensch. Ein leider oft beobachtetes Phänomen; Innovation prallt gegen ein starres System voller Beharrungskräfte. Der Helios-Mann glaubt aber, dass der CUBE kommen wird – einfach, weil es eine bessere medizinische Versorgung möglich macht.
Frühe Diagnose möglich machen: Digital gegen Alzheimer
Beispiel Nummer 3 für die nachhaltigen positiven Effekte einer Online-Medizin ist ihr Einsatz bei neurogenerativen Erkrankungen. Die Zahl der Demenzkranken in Deutschland wird in den kommenden Jahren stark ansteigen, weshalb Prävention, Früherkennung und Therapie deutlich ausgebaut werden müssen. Die Herausforderung bringt Professor Dr. Emrah Düzel vom Institut für Kognitive Neurologie, Magdeburg, an einem Beispiel auf den Punkt. Ein beliebige Frau mit 65 macht sich Sorgen um ihre Merkfähigkeit. Das könnte auf eine leichte kognitive Störung im Zusammenhang mit der Alzheimer-Erkrankung hinweisen. Ihr Weg führt sie zum Hausarzt (keine Diagnose), dann zum niedergelassenen Facharzt (wahrscheinlich auch keine Diagnose); schließlich landet sie bei einer Gedächtnisambulanz.
Dort schließlich die Diagnose. Düzel sagt: „In 40 bis 60 Prozent der Fälle wird dann Entwarnung gegeben.“ Der Zeitverlust: 1 bis 2 Jahre, so der Neurologe. „Die Gedächtnisambulanzen sind überlastet, denn es gibt keine Vorselektion.“ Er geht davon aus, dass in Deutschland 1,5 bis 3,7 Millionen Menschen mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung (Mild Cognitive Impairment, MCI) leben, die gar nicht diagnostiziert ist. Eine MCI aber kann nur in Gedächtnisambulanzen diagnostiziert werden; sie ist ein Hinweis darauf, dass eine Verschlechterung in den kommenden Jahren wahrscheinlich ist.
Hier kann das Smartphone helfen. Mit einer entsprechenden App ist eine digitale Selbsttestung möglich. „Das führt zu Zeitersparnis in der Praxis, man kann über längere Zeiträume testen und Verläufe bestimmen.“ In der Diagnose von Demenzerkrankungen, so Düzel, „stehen wir vor einem massiven Umbruch, weil bald blutbasierte Tests zur Verfügung stehen.“ Die Idee ist nun, Apps wie neotiveCare, die Gedächtnischecks über längere Zeiträume möglich machen, und die Bluttests miteinander zu kombinieren. „In einer Studie in Schweden konnten wir zeigen, dass wir dadurch viel besser vorhersagen können, wer eine Demenz entwickelt und wer nicht.“ Der Vorteil ist, dass die Diagnose viel früher und flächendeckender stattfinden kann. „Die Prävention kann sehr viel früher initiiert werden.“
Digitale Medizin – für ein patientenzentriertes Gesundheitssystem
Eine App, die Diagnosen stellt, fast so akkurat wie medizinisches Fachpersonal. Ein in einen kleinen Kiosk verpackter, KI-gesteuerter Avatar. Ein Lieferwagen, der die Medizin zu den Menschen bringt und nebenbei Personalprobleme löst. Und eine digitale Selbsttestung zur frühen Erkennung von Demenzerkrankungen und ihren Verläufen – das sind nur wenige Beispiele für eine digitale Revolution, die schon läuft. Und die belegt: Nur mit der digitalisierten Medizin wird es uns gelingen, ein wirklich patientenzentriertes Gesundheitssystem zu erhalten und weiterzuentwickeln.
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