12 bis 15 Jahre vergehen von der Idee bis hin zum Medikament. Digitale Tools könnten die pharmazeutische Forschung effizienter machen – im Sinne der Patient:innen. Foto: ©iStock.com/Toowongsa Anurak
12 bis 15 Jahre vergehen von der Idee bis hin zum Medikament. Digitale Tools könnten die pharmazeutische Forschung effizienter machen – im Sinne der Patient:innen. Foto: ©iStock.com/Toowongsa Anurak

Krankheiten besiegen: Mithilfe von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz

Von der Idee bis zum zugelassenen Medikament vergehen durchschnittlich 12 bis 15 Jahre. 95 Prozent der Wirkstoffkandidaten scheitern. Doch aufgeben kommt nicht in Frage: Nur ein Drittel aller heute bekannten Erkrankungen sind behandelbar. Digitale Instrumente könnten Prozesse beschleunigen und die Erfolgswahrscheinlichkeit pharmazeutischer Forschung erhöhen – sodass innovative Arzneimittel schneller bei den Patient:innen sind. Ein Interview mit Dr. Brigitte Fuhr, Expertin für Data Science und Artificial Intelligence beim Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim.

Die Datenwissenschaft bzw. Data Science hat unzählige Anwendungsgebiete. Warum arbeiten Sie ausgerechnet in der pharmazeutischen Industrie?

Dr. Brigitte Fuhr, Expertin für Data Science und Artificial Intelligence beim Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim
Dr. Brigitte Fuhr, Expertin für Data Science & Artificial Intelligence. Foto: Boehringer Ingelheim

Dr. Brigitte Fuhr: Vor rund 7 Jahren, ich arbeitete damals bei einem Luftfahrtkonzern, stellte ich mir die Frage: Will ich weiterhin Flugpläne optimieren – oder Leben retten? Ich habe sehr gerne dort gearbeitet. Doch die Vorstellung, dass ich mit meiner Tätigkeit einen echten Unterschied bei der Bekämpfung von Krankheiten machen könnte, brachte mich dazu, in die pharmazeutische Industrie zu wechseln. Data Science ist für die meisten Industrien und Unternehmen heutzutage von großer Bedeutung – aber in der Pharmabranche ist sie im wahrsten Sinne des Wortes: lebensnotwendig. Hier liegen Unmengen an Daten vergraben – etwa aus klinischen Studien, aus elektronischen Gesundheitsakten der Patient:innen, aus der Produktion und von der gesamten Lieferkette. Sie haben enormes Potenzial: Sie tragen dazu bei, dass wir besser verstehen, wie Krankheiten entstehen, wie wir sie behandeln oder heilen könnten oder wie es gelingt, neue Medikamente schneller zu den Menschen zu bringen.

Inwiefern nutzen Sie in der pharmazeutischen Forschung digitale Instrumente, um das Potenzial solcher Daten zu heben?

Fuhr: Tatsächlich können wir schon heute bestimmte Prozesse beschleunigen und so auch die Erfolgswahrscheinlichkeit der Forschung erhöhen, indem wir digitale Tools verwenden. Ein Beispiel ist iQNow – ein intelligenter Assistent, den wir inhouse entwickelt haben und der unsere Forschenden dabei unterstützt, relevante Informationen aus Forschungsliteratur zu finden. Jeden Tag werden etliche neue medizinisch-wissenschaftliche Arbeiten und Studien weltweit veröffentlicht; die Wissensflut ist enorm – kein Mensch allein kann da den Überblick behalten. Hier setzt iQNow an und kombiniert semantische Suche mit Large Language Modellen – also die Art von Modellen, die auch dem Tool ChatGPT zugrunde liegen. Das System hilft dabei, aus der großen Menge von Publikationen die relevanten Informationen zu finden, zusammenzufassen und wissenschaftliche Fragen zu beantworten.

Das klingt nach einer enormen Erleichterung…

Fuhr: Auf jeden Fall. Sehr nützlich ist auch ein weiteres inhouse entwickeltes Tool, das sich ADAM nennt. Das steht für Advanced Design Assistant for Molecules. Dazu muss man wissen: Ganz am Anfang der Arzneimittelforschung steht die Frage, welche Struktur im Körper sich als ein Angriffspunkt eignen würde, um eine bestimmte Krankheit zu beeinflussen. Ist das geklärt, geht es im nächsten Schritt darum, Moleküle zu finden, die an diesen Angriffspunkt binden könnten – das ist die Basis, um daraus später einen Wirkstoff zu entwickeln, der genau dort ansetzt. Die Herausforderung ist: Hunderttausende oder Millionen Moleküle müssen dafür gescreent werden. ADAM ist ein System, welches es uns mittels Künstlicher Intelligenz (KI) ermöglicht, Moleküle zu priorisieren – indem es ihre Eigenschaften vorhersagt. So kann ADAM etwa Hinweise darauf geben, wie ein Molekül im Körper verstoffwechselt wird. Das hilft uns früh zu entscheiden, auf welche Molekülstrukturen wir uns konzentrieren sollten – und bei welchen sich das nicht lohnt.

Das spart Zeit und Ressourcen. Gibt es weitere Beispiele?

KI in der Pharmaforschung
Daten: Krankheiten verstehen und Medikamente schneller zu den Menschen bringen. Foto: ©iStock.com/metamorworks

Fuhr: Computational Biology ist ein Bereich, in dem Computer eingesetzt werden, um komplexe biologische Zusammenhänge im Körper zu simulieren oder zu modellieren. Diese Methode wird seit langer Zeit in der Forschung angewandt, aber bekommt mit den wachsenden Rechenkapazitäten, mit der immer größeren, zur Verfügung stehenden Datenmenge und mit neuen Methoden im Bereich des maschinellen Lernens und KI Aufwind. Mit Computational Biology schauen wir uns zum Beispiel an, wie Medikamente im Körper wohl wirken oder wie die Wechselwirkung bestimmter Proteine oder Gene im Körper aussehen könnte. Daraus leiten wir computergestützt wissenschaftliche Erkenntnisse für unsere Forschungsarbeit ab. Computational Biology spielt zudem eine große Rolle, wenn es um personalisierte Medizin geht – weil sich prognostizieren lässt, wie einzelne Menschen basierend auf ihren jeweiligen genetischen Strukturen auf ein bestimmtes Medikament ansprechen.

Arbeiten Sie bei Boehringer Ingelheim auch an Anwendungen, die noch Zukunftsmusik sind?

Fuhr: Da ist das sogenannte Quantencomputing zu nennen. Das steckt noch in den Kinderschuhen, aber soll die nächste Stufe der computergestützten Pharmaforschung möglich machen.

Was meinen Sie damit?

Fuhr: Die Idee dahinter ist, einen digitalen Zwilling des menschlichen Körpers erstellen zu können. Es geht also nicht darum, nur einzelne Bereiche, Prozesse, Molekülinteraktionen im Körper zu simulieren bzw. modellieren, wie das bei Computational Biology der Fall ist. Sondern im Fokus steht der menschliche Körper als Gesamtes. Das ist mit den Computern, die wir heute haben, nicht möglich. Mit dem Quantencomputing könnte sich das ändern – aufgrund der anderen Arbeitsweise und Leistungsfähigkeit dieser Computer. Wir haben bei Boehringer Ingelheim ein eigenes Team, das mit großen Playern wie Google und innovativen Startups sowie Universitäten zusammenarbeitet, um hier angewandte Grundlagenforschung zu betreiben.

Das heißt: Viele Menschen arbeiten jetzt an etwas, das dem Unternehmen aktuell noch gar nichts bringt?

Fuhr: Genau – die Hoffnung ist, dass diese Technologie in einigen Jahren so weit ist, dass sie uns in der Forschung wirklich vorwärtsbringt. Quantencomputing hat das Potenzial, die Pharmabranche und die Forschung an innovativen Arzneimitteln für die Patient:innen regelrecht zu revolutionieren.

Weiterführende Links:
re:publica 2024: Krankheiten besiegen durch KI & Co

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