Welches sind die wichtigsten Ergebnisse des Gutachtens: „Fachkräfte im Gesundheitswesen. Nachhaltiger Einsatz einer knappen Ressource“?
Prof. Dr. Michael Hallek: Die wichtigste und zugleich eine überraschende Erkenntnis war: Im Gesundheitswesen in Deutschland stehen pro Einwohner nicht weniger Fachkräfte zur Verfügung als in den meisten europäischen Nachbarstaaten mit vergleichbaren Gesundheitssystemen – dies gilt sowohl für Pflegefachkräfte als auch für Ärztinnen und Ärzte. Im Gegenteil, wir liegen sogar an der Spitze, haben also relativ viele Fachkräfte zur Verfügung.
Aber es heißt doch immer, im medizinischen und im Pflegebereich würden Fachkräfte fehlen.
Hallek: Man kann nicht sagen, es gäbe überhaupt keinen Fachkräftemangel, das wäre falsch. Aber: Wir setzen unsere Fachkräfte anders ein als andere Länder. Und das hat mit der zweiten wesentlichen Erkenntnis des Gutachtens zu tun: Wir behandeln in Deutschland deutlich mehr Menschen in Krankenhäusern als viele andere Länder. Dadurch stehen pro behandeltem Fall tatsächlich weniger Fachkräfte zur Verfügung – das wiederum führt zu einer gefühlten und auch konkreten Überlastung der Mitarbeitenden. Anders gesagt: Wir haben zwar Personal, aber wir behandeln deutlich mehr Krankenhausfälle als andere Länder.
Woran liegt das? Sind die Menschen in Deutschland kränker als anderswo?
Hallek: Prinzipiell sehen wir kaum Unterschiede in der Krankheitslast. Große Unterschiede gibt es dagegen in der Organisation des Gesundheitswesens. Nehmen wir Dänemark als Beispiel. Dort gibt es pro 1.000 Einwohner etwas weniger Ärzt:innen und Pflegekräfte als bei uns. Dänemark verfügt über 32 Krankenhäuser für ungefähr 6 Millionen Einwohner. Wenn man das auf Deutschland hochrechnet, würden wir hier nur etwa 440 Krankenhäuser benötigen – wir haben aber fast 1.900. Also mehr als viermal so viele. Trotzdem ist die Lebenserwartung bei uns nicht höher, sondern niedriger als in Dänemark. Das sollte uns zu denken geben.
Was machen die Dänen besser?
Hallek: Sie versuchen, möglichst viele Patienten ambulant zu versorgen. Die Primärärzte, ungefähr vergleichbar mit unseren Hausärzten, sind einbezogen und organisieren gemeinsam mit den Kommunen die Versorgung vor Ort – dabei helfen auch Vereine und soziale Dienste mit. Der Patient soll nur in bestimmten notwendigen Fällen, etwa bei komplexen Erkrankungen wie Krebs, in die Klinikzentren kommen und dort behandelt werden – übrigens auch dort überwiegend ambulant. Das heißt, das System ist darauf optimiert, möglichst viele Patient:innen in häuslicher Umgebung zu halten, auch bei chronischen Erkrankungen, und möglichst wenig Krankenhausfälle zu generieren.
Was bedeutet das im Hinblick auf die medizinischen Fachkräfte?
Hallek: Obwohl pro Einwohner etwas weniger Fachkräfte als bei uns im Einsatz sind, steht in den Kliniken zwei- bis dreimal so viel Personal zur Verfügung. Dieses muss dann keine Bagatellfälle behandeln, sondern kann sich auf die wirklich schwer erkrankten Patienten konzentrieren.
Heißt das, bei uns werden auch Menschen im Krankenhaus behandelt, bei denen es gar nicht notwendig wäre?
Hallek: Korrekt. Ein wichtiger Faktor dabei ist auch, dass über die Notaufnahmen viele Menschen in die Krankenhäuser kommen, die auch außerhalb behandelt werden können. Man schätzt, dass grob die Hälfte der Vorstellungen in den Klinik-Notaufnahmen, vielleicht sogar mehr, nicht indiziert sind – das gleiche gilt für viele Rettungsdienstfahrten.
Was müsste passieren, um zu verhindern, dass Menschen ohne Not in die Notaufnahme und ins Krankenhaus kommen?
Hallek: Wir haben dazu ein Paket an Vorschlägen im Gutachten gemacht. Diese Vorschläge sind modular zu verstehen, also einzeln oder gemeinsam einsetzbare Handlungsoptionen. Eine der wichtigsten Maßnahmen ist die Notfallreform, die schon seit Jahren diskutiert wird, aber über mehrere Legislaturperioden nicht umgesetzt wurde. Sie sieht eine zentrale Anlaufstelle vor, eine Art Tresen, an dem der ärztliche Bereitschaftsdienst sitzt, die jeweils zuständige Klinik, die niedergelassenen Ärzte, der Rettungsdienst. Sie alle koordinieren sich so, dass die Versorgung möglichst vor Ort passiert. So könnte etwa der Rettungsdienst eine eigene Erstattung dafür bekommen, dass er Patienten, die nicht ins Krankenhaus müssen, vor Ort versorgt. Viele Patienten könnten auch ambulant vom ärztlichen Bereitschaftsdienst behandelt werden. Wenn man das gut koordiniert und strukturiert, dann könnte, so sagen es seriöse Berechnungen, die Zahl der stationären Aufnahmen um 30 bis 40 Prozent reduziert werden. Das wären ungefähr 12 bis 30 Millionen Behandlungstage in Deutschland und damit ungefähr 10 bis 20 Prozent der gesamten Krankenhausbelastung. In Dänemark beispielsweise wird es so gemacht.
Aber Tatsache ist doch auch, dass es oft monatelang dauert, einen Termin beim Facharzt zu bekommen. Liegt es da nicht nahe, in die Notaufnahme zu gehen, um schneller behandelt zu werden?
Hallek: Das ist ein weiterer Punkt, der uns sehr betrübt. Aber auch bei den Fachärzten gibt es eine Überlastung des Systems durch mehrfache oder nicht indizierte Vorstellungen. Hier schlagen wir vor, die Zahl unkoordinierter und zum Teil mehrfacher fachspezialistischer Kontakte zu reduzieren – und zwar durch ein primärärztlich gesteuertes System. Das heißt, der Patient sollte sich zunächst beim Hausarzt vorstellen. Dieser kann dann entscheiden, welche Weiterbehandlung sinnvoll ist. Es gibt ja manchmal ältere Menschen, die zum Arzt gehen, weil sie beispielsweise Herzschmerzen haben – dahinter steckt aber eine andere Erkrankung, vielleicht eine Depression. Der Hausarzt, der den Patienten kennt, kann das vernünftig steuern. Zudem muss man auch Anreize für eine Fehlversorgung streichen. Wir haben zum Teil fachärztliche Strukturen, die eine Überversorgung stattfinden lassen – so gibt es in Deutschland sehr hohe Leistungszahlen an Bildgebung oder an bestimmten kardiologischen Eingriffen, die ökonomisch besonders lukrativ sind. Das könnte man reduzieren. Aber man muss dies natürlich mit den Fachgruppen besprechen und mit ihnen gemeinsam die Versorgung umbauen.
Sie schlagen in dem Gutachten auch vor, Patient:innen sollte es möglich sein, sich in ein Primärarztsystem einzuschreiben. Wie funktioniert das?
Hallek: Das ist unser vielleicht wichtigster Vorschlag, um eine Fehlversorgung zu reduzieren. Er sieht vor, dass Patienten sich für eine hausarztzentrierte Versorgung einschreiben können – sie verpflichten sich also, zunächst zum Hausarzt zu gehen, bevor sie sich selbst beim Facharzt einweisen. Sie würden dann zum Beispiel durch günstigere Krankenkassenbeiträge belohnt. Außerdem könnte auch die Pflege Teile von ärztlichen Aufgaben übernehmen. Ein Patient mit einer Diabeteswunde am Bein braucht zum Beispiel nicht immer unbedingt eine ärztliche Versorgung, sondern kann möglicherweise auch über eine längere Zeit von Pflegefachkräften kompetent versorgt werden. Dazu müsste man jedoch eine in Grenzen stattfindende, heilkundliche Ermächtigung für Pflegekräfte einführen. Die Pflege könnte also eigenständiger agieren, wie das in vielen Ländern heute schon der Fall ist. Ich denke da an Finnland, an Dänemark, auch an Frankreich. Solche Entlastungsmaßnahmen könnten dafür sorgen, dass man wieder einen Termin beim Facharzt bekommt, wenn man ihn wirklich braucht.
Sie haben einmal gesagt, wir seien in Deutschland „brutal umständlich organisiert“. Was meinen Sie damit?
Hallek: Man sieht es zum Beispiel bei der Krankenhausreform. Dort haben wir monatelangen Diskussionen zuhören dürfen. Es gab komplexe Abstimmungen zwischen den Akteuren im Bund und den Bundesländern. Die Länder sind zuständig für die Umsetzung der Gesundheitsversorgung, die föderal geregelt ist. Die Rahmenbedingungen schafft der Gesetzgeber im Bund. Man kann dem Föderalismus auch Gutes abgewinnen, aber in manchen Bereichen ist er ein Behinderungswerkzeug für Reformen. Da wird so lange geredet, bis am Ende von den Reformen nichts mehr übrigbleibt.
Was müsste passieren, um die Reformfähigkeit zu verbessern?
Hallek: Die einfache Antwort wäre: Politischer Mut und Entschlossenheit. Aber ich fürchte, es muss erst die Not groß genug sein, um endlich grundlegende Reformen umzusetzen. Die Krankenhausreform hat solche Elemente. Da geht es ans Eingemachte. Deswegen wird sie auch so kontrovers diskutiert. Wenn wir es schaffen würden, klare Rollenzuteilungen für einzelne Krankenhäuser und für die niedergelassenen Kollegen zu finden, dann könnte das dazu führen, dass wir am Ende ein effizienteres Gesundheitswesen bekommen. Ich bin verhalten optimistisch. Aber die Hürden, um in Deutschland etwas zu ändern, sind im Gesundheitswesen besonders groß.
Was kann die elektronische Patientenakte beitragen?
Hallek: Sie ist ein entscheidendes Element, wie ganz grundsätzlich die Digitalisierung des Gesundheitswesens. Denn es ist enorm wichtig, die Daten des Patienten für jeden Behandelnden verfügbar zu machen, egal, ob im Krankenhaus oder der Arztpraxis. Wir könnten hier erhebliche Effizienzgewinne erreichen und unnötige Bürokratie abbauen.
Sie haben Ihr Gutachten an Gesundheitsminister Lauterbach übergeben. Hat er bereits reagiert – und wenn ja, wie?
Hallek: Wir haben sehr positive Rückmeldungen bekommen, nicht nur von ihm und seinen Fachleuten, sondern auch aus der Ärzteschaft und dem Kreis der ärztlichen Direktoren. Das hat uns gefreut, weil unsere Anregungen ernst genommen werden. Es gibt konkrete Planungen, Elemente davon für anstehende Pflegereformen zu übernehmen. Und einige Länder haben begonnen, Maßnahmen im Bereich der Notfallversorgung noch einmal zu diskutieren.
Was hat Sie und ihre Kolleg:innen eigentlich dazu motiviert, dieses Gutachten zu verfassen?
Hallek: Unsere Vorschläge sind ein Herzensanliegen, das gilt für mich und auch für alle anderen Sachverständigen. Wir wollen ein optimales Gesundheitswesen und nicht eines, das auf dem Rücken der Patienten optimiert wird. Es geht darum, ein gutes, effizientes Gesundheitswesen zu haben mit einem Solidarsystem, das diesen Namen wirklich verdient. Damit wir auch in Zukunft alle Menschen gut behandeln können, sollten wir uns ein Beispiel nehmen an Ländern, die mit weniger Ressourceneinsatz sehr erfolgreich sind.
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