Schon der Titel der Veranstaltung war mit einem Fragezeichen versehen: „Nationale Impfstrategie – Boost für die Prävention?“ Schön wäre es. Doch der Weg dahin ist kein einfacher, wie schon aus der Keynote von Tino Sorge deutlich wurde, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium. Er verwies darauf, dass Impfen noch längst nicht in der Lebenswirklichkeit vieler Menschen angekommen sei. Und dies, obwohl es sehr viele gute Impfungen gebe, die teilweise sogar bestimmte Krebserkrankungen verhindern könnten – so wirken etwa die HPV- und die Hepatitis-B-Impfung gegen Viren, die potenziell Gebärmutterhalskrebs bzw. Leberkrebs auslösen können. „Da gibt es dann schon zu denken“, so Sorge, „dass die Impfraten nicht so sind wie sie sein könnten.“ So seien etwa bei den 15-jährigen Mädchen „gerade mal 55 Prozent gegen HPV geimpft. Bei den Jungs sieht es noch schlechter aus, da liegen wir bei 34 Prozent.“
Nach Corona gab es sinkende Impfquoten

Aber weshalb ist das so? Und weshalb sind die Impfquoten heute oft niedriger, etwa bei der Grippe-Impfung, als noch vor der Corona-Pandemie? Eine Ursache, so Sorge, liege darin, „dass wir dieses Verhetzungspotenzial unterschätzt haben.“ Nach Covid sei es „noch schlimmer geworden“ mit Fake-News und falschen Impf-Behauptungen zweifelhafter Influencer. Tim Steimle, Fachbereichsleiter Arzneimittel bei der Techniker-Krankenkasse (TK), warnte vor unheilvollen Anti-Impf-Trends aus den USA, „die hoffentlich nicht zu uns herüberschwappen.“ Und Serdar Yüksel, Berichterstatter für Prävention in der SPD-Bundestagsfraktion, ergänzte: „Manche Eltern sagen, ich geh lieber mit meiner Tochter auf eine Masernparty als sie impfen zu lassen.“ Eine solche Denkweise habe jedoch eine lange Tradition. So erinnerte Yüksel an das Jahr 1807, als in Bayern eine Pocken-Impfpflicht eingeführt wurde – in der Folge seien dort Plakate mit Kuhköpfen aufgehängt worden und es habe Warnungen gegeben: „Wenn Du dich impfen lässt, dann verwandelst du dich in eine Kuh.“
Doch es liegt nicht nur an irgendwelchen Verschwörungstheorien. Sondern auch daran, dass es in vielen Bereichen hapert, die zu einer besseren Impf-Versorgung beitragen könnten. Kommunikation. Entbürokratisierung. Finanzierung. Digitalisierung. So gibt es zum Beispiel noch immer keinen digitalen Impfausweis, schon gar keinen, der in die elektronische Patientenakte (ePA) integriert wäre. „Der digitale Impfpass“, weiß Tino Sorge, „sieht meistens so aus, dass die Leute ihr Impf-Heft abfotografiert haben.“
Mehr Impfen: Diese konkreten Schritte wären sinnvoll
Was aber kann und muss ganz konkret getan werden, damit es besser wird? Dazu mangelt es nicht Vorschlägen, die sich meist ohne großen Aufwand umsetzen ließen. Hier die wichtigsten:

- „Wir müssen Gesundheitskompetenz in die Schulen, die Bildungseinrichtungen tragen – über Schul-Gesundheitsfachkräfte, über ein Schulfach ´Gesundheit`, wie auch immer – und wir müssen Prävention in die Medizin-Ausbildung bringen.“ – Prof. Dr. Heidrun Thaiss, Vorstand Nationales Aktionsbündnis Impfen.
- „Woher bekommen wir die Impfstoffe für die Menschen? Da bin ich beim Thema Pharmastandort Deutschland. Wir haben explizit in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben: Die Pharma-Industrie ist eine Leitindustrie in Deutschland. Anfang November wird es im Kanzleramt wieder einen Pharma-Dialog geben – da geht es auch darum, wie man die Standortbedingungen in Deutschland verbessern kann, gerade im Hinblick auf das Impfen, auf die Herstellung von Impfstoffen.“ – Tino Sorge.
- „Inzwischen können auch Apotheken impfen – und je mehr Stationen es gibt, wo geimpft werden kann, umso besser. Wir sollten auch die Betriebsärzte noch viel stärker einsetzen.“ – Han Steutel, Präsident des Verbandes der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa).
- „Die Apotheken gehören dazu in die Nationale Impfstrategie – denn wir können ein kluges, niedrigschwelliges Angebot machen. Apotheken sind von Montag bis Samstag, manche auch an Sonn- und Feiertagen, geöffnet und sind Andockpunkte im Bereich der Gesundheit, Krankheit, Prävention.“ – Dr. Ina Lucas, Präsidentin der Apothekenkammer Berlin.
- „Dem öffentlichen Gesundheitsdienst kommt eine besondere Bedeutung zu. Da sollten wir auch die Betriebsärzte noch intensiver einbeziehen – die meisten der 49 Millionen Beschäftigten müssen irgendwann zum Betriebsarzt.“ – Serdar Yüksel.
- „Wie kriegen wie die STIKO-Empfehlungen schneller ins System? Das dauert manchmal eineinhalb Jahre. Und wir haben ein hochkompliziertes Kostenerstattungssystem. Wir treten als TK dafür ein, dieses System schneller zu machen.“ – Tim Steimle.
- „Was man wirklich schnell machen kann, Herr Yüksel, das ist, den elektronischen Impfausweis in die ePA zu bringen. Das sollten Sie vor 2027 hinkriegen. Das wäre für uns in der Praxis ein unheimliches Hilfemodul. Wir könnten zielgenau, ohne viel Zeit zu verlieren, die Patienten impfen. Bitte machen Sie das.“ – Thomas Fischbach, niedergelassener Kinder- und Jugendarzt in Solingen und Mitglied des Nationalen Aktionsbündnisses Impfen.
Zusammenfassend erklärte Heidrun Thaiss: „Wir müssen das Thema Gesundheit mitdenken bei jeder politischen Entscheidung. Jeder Gesetzesentwurf hat im Referentenentwurf am Ende einen Zusatz mit der Frage: Welche Auswirkungen hat das finanziell? Wir müssen dahin kommen, zu fragen: Welche Auswirkungen hat dieses Gesetz auf die Gesundheit der Menschen? Also: Wir brauchen einen Paradigmenwechsel, weg von der Kuration (Behandlung, Anm. d. Red.) hin zur Prävention. Wir haben Daten: Prävention wirkt, Prävention rechnet sich – und sie muss oben auf der politischen Agenda sein.“
Es braucht einen Impfbeauftragten in der Regierung

Damit das auch umgesetzt wird, schlug der Geschäftsführer des Gesundheitsdaten-Spezialisten Vandage GmbH, Dr. Julian Witte, vor, „einen zentralen Akteur und Ansprechpartner auf Bundesebene für die Entwicklung, Ausarbeitung und Koordination einer Impfstrategie“ zu etablieren – etwa im Gesundheitsministerium.
Auffallend war: Besonders leidenschaftlich beteiligten sich die beiden Gesundheits- und Regierungspolitiker Tino Sorge (CDU) und Serdan Yüksel (SPD) an der Diskussion. Beide betonten mehrfach, wie wichtig Prävention im Allgemeinen und Impfen im Besonderen seien. Und beide zeigten sich zuversichtlich, dass es unter der jetzigen Regierung schon bald sichtbare Verbesserungen geben wird. So rechnet Yüksel schon im kommenden Jahr mit der Einführung des elektronischen Impfausweises. Und Tino Sorge versprach nicht nur bessere Standortbedingungen für die Pharma-Industrie, sondern auch, dass er dazu beitragen will, klar zu machen, „dass Impfen extrem wichtig ist“ – für die Menschen, aber auch unter gesundheitspolitischen und volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten.
Doch wie geht es nun weiter? Heidrun Thaiss kündigte an, aus den Vorschlägen des Impfgipfels ein Zehn-Punkte-Papier für die politischen Entscheider zu formulieren – „nicht als Forderung, sondern als Angebot und Handlungsempfehlung.“
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