Die Kinderrheumatologin Prof. Dr. Kirsten Minden erklärt im Interview, weshalb die Behandlung rheumatischer Erkrankungen auch im Erwachsenenalter so wichtig ist.
Die Kinderrheumatologin Prof. Dr. Kirsten Minden erklärt im Interview, weshalb die Behandlung rheumatischer Erkrankungen auch im Erwachsenenalter so wichtig ist.

Rheuma bei Kindern: Nach der Pubertät beginnen die Probleme

Rheuma zählt zu den häufigsten chronischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen – doch viele von ihnen werden nicht mehr behandelt, sobald sie erwachsen sind. Mit fatalen Folgen. Welche das sind und was sich ändern muss, darüber haben wir mit Prof. Dr. Kirsten Minden gesprochen. Sie ist bei der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie und Klinische Immunologie (DGRh) Sprecherin des Arbeitskreises Transitionsmedizin – und sie arbeitet am deutschen Rheuma-Forschungszentrum in Berlin und als Kinderrheumatologin am Sozialpädiatrischen Zentrum der Charité-Universitätsmedizin Berlin.
Prof. Dr. Kirsten Minden, DGRh.
Prof. Dr. Kirsten Minden, DGRh. Foto: privat

Rund 14.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland leiden an einer juvenilen idiopathischen Arthritis – was ist das für eine Krankheit?

Prof. Dr. Kirsten Minden: Die juvenile idiopathische Arthritis, kurz JIA, ist die häufigste chronisch-entzündliche Gelenkerkrankung im Kindes- und Jugendalter. Jedes eintausendste Kind ist davon betroffen. Damit gehört sie zu den häufigsten chronischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen.

Welche Symptome hat die JIA?

Minden: Das ist keine homogene Erkrankung. Juvenile idiopathische Arthritis ist der Oberbegriff für alle Gelenkrheumaformen, die bei Kindern und Jugendlichen auftreten können. Sie alle haben gemeinsam, dass bei den Betroffenen eine immunvermittelte chronische, also länger andauernde, Gelenkentzündung unklarer Ursache auftritt. Das heißt, wir wissen nicht, warum die Gelenkentzündung entsteht, die bei den Kindern zu Schwellungen, Schmerzen, Bewegungseinschränkungen führt.

Welche Gelenke betrifft das?

Minden: Grundsätzlich alle. Die Erkrankung kann nur wenige oder nur ein Gelenk betreffen, aber auch viele – und sie verläuft sehr unterschiedlich. Sie muss nicht auf die Gelenke beschränkt bleiben, sondern sie kann auch die Augen und andere Organe betreffen – das ist gar nicht so selten. Und sie hat erhebliche Auswirkungen auf den Alltag der Kinder und Jugendlichen. Die Schmerzen und Bewegungseinschränkungen beeinträchtigen Sport, Spiel, Schulbesuch. Hinzu kommen häufige Arztbesuche und regelmäßige Behandlungen – dies alles kann psychische Belastungen bei den Betroffenen hervorrufen und sogar soziale Kontakte erschweren. Wichtig ist, dass wir diese Erkrankung so früh wie möglich erkennen und effektiv behandeln.

Warum ist das so wichtig?

JIA: Juvenilen idiopathischen Arthritis
Wichtig: Frühe Diagnose, damit dauerhafte Schäden vermieden werden. Foto: ©iStock.com/Ivan-balvan

Minden: Weil sich sonst dauerhafte Schäden entwickeln können. Insbesondere an den Gelenken, aber auch die Augenmanifestation ist ein großes Problem. Sie ist zunächst von außen nicht erkennbar, auch die Kinder merken das nicht. Deshalb müssen sie regelmäßig zum Augenarzt, um so eine Entzündung ausschließen zu lassen. Eine Augenbeteiligung betrifft jedes achte Kind mit Gelenkrheuma. Und wenn man sie nicht früh genug erkennt, dann kann das relativ rasch zu Sehkrafteinbußen und im Extremfall bis zur Erblindung führen.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es bei dieser Erkrankung?

Minden: Das ist die gute Nachricht: Wir haben in den letzten 20 Jahren sehr viele neue, zielgerichtet wirkende Therapien in die Hand bekommen, mit denen wir die überwiegende Mehrheit der Patienten sehr gut behandeln können. Dadurch gelingt es uns in der Regel, die Krankheit zu kontrollieren.

Wie läuft die Behandlung ab?

Minden: Es gibt eine multimodale Therapie, die auf mehreren Säulen ruht. Idealerweise sollte eine multidisziplinäre Betreuung erfolgen, weil die Krankheit sich eben auf alle Lebensbereiche auswirken kann – Rheumatologen, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Psychologen und anderen Fachdisziplinen sollten zusammenarbeiten. Die Hauptsäule der Behandlung sind jedoch die entzündungshemmenden Medikamente. Wir starten in der Regel mit klassischen Fieber- und Schmerzmedikamente ein – oft gelingt es damit aber nicht, so eine rheumatische Erkrankung effektiv zu behandeln. In der Langzeitbehandlung spielen deshalb andere Medikamente eine Rolle.

Welche?

Rheuma – ein Übergriff für zahlreiche unterschiedliche Leiden an Stütz- und Bewegungsapparat
JIA kann alle Gelenke betreffen. Foto: ©iStock.com/peterschreiber.media

Minden: Das sind immunmodulierende Medikamente, die mehr oder weniger gezielt in unser Immunsystem eingreifen und dort die überschießende Entzündungsreaktion herunterfahren können – daneben setzen wir sehr häufig auch noch konventionelle Therapien ein. In den letzten 20 Jahren wurden elf neue, sehr gezielt wirkende Medikamente, zum Beispiel Biologika, für Kinder mit Rheuma zugelassen, mit denen wir sehr effektiv die rheumatische Entzündung kontrollieren können. Ergänzend zu den Medikamenten sind auch Physio- und Ergotherapien notwendig, um die Gelenkbeweglichkeit zu erhalten und Fehlstellungen zu vermeiden – ebenso wichtig ist eine psychosoziale Unterstützung der Betroffenen und ihrer Familien. Heilen können wir die Krankheit bisher nicht, aber wir schaffen es bei der überwiegenden Mehrheit, die Erkrankung schon früh vollständig in eine Inaktivität zu überführen. Dabei gibt es allerdings ein Problem.

Und das wäre?

Minden: Die Krankheit wird oft wieder aktiv, wenn die Therapie abgesetzt wird. Mit anderen Worten: Viele Patient:innen müssen weiter mit Medikamenten behandelt werden, wenn sie erwachsen sind. Eine kontinuierliche rheumatologische Versorgung ist deshalb wichtig. Daran hapert es jedoch. Denn viele dieser jungen Patient:innen werden nicht mehr fachspezifisch behandelt, sobald sie das Erwachsenenalter erreichen.

Weshalb ist das so und welche Folgen hat das?

Minden: Wir haben dazu ein Forschungsprojekt mit Betroffenen zwischen 16 und 25 Jahren aufgesetzt. Dabei zeigte sich: Jeder Zweite wird im jungen Erwachsenenalter nicht mehr fachärztlich rheumatologisch versorgt. Wir haben die jungen Menschen gefragt, warum sie nicht mehr zum Rheumatologen gehen. Der Hauptgrund sind Zugangsprobleme. Es gibt zu wenige ambulant tätige Rheumatologen für Erwachsene und deshalb sind Termine nur schwer zu bekommen. Derzeit gibt es hierzulande gut 700 niedergelassene Erwachsenen-Rheumatologen, benötigt würden aber 1.400, um die ambulante Versorgung zu gewährleisten. Hinzu kommt: Viele Betroffene glauben, dass sie keine Behandlung mehr brauchen. Sie denken, sie seien geheilt, weil sie keine Beschwerden mehr haben. Aber Rheuma ist eine chronische Erkrankung, die oft nur durch die Medikamente in Schach gehalten wird. Wir empfehlen deshalb regelmäßige Befundkontrollen, damit die Therapie immer an die aktuelle Krankheitsaktivität angepasst werden kann – zumal es bei einem akuten neuen Schub manchmal Monate dauern kann, bis man einen ersten Termin beim Rheumatologen bekommt. Da geht oft wertvolle Zeit verloren, was sich langfristig sehr ungünstig auswirken kann. Und es gibt noch einen dritten Grund für die fehlende Weiterversorgung, der uns dann doch ein wenig überrascht hat.

Welchen?

JIA: Übergang ins Erwachsenenalter
Übergang ins Erwachsenenalter: Neuen Arzt zu finden nicht immer leicht. Foto: ©iStock.com/gzorgz

Minden: Unsicherheit und Angst vor dem Unbekannten können den Übergang ins Erwachsenenalter erschweren. Oft bestehen zusätzlich psychische Belastungen – so leidet jeder sechste jungen Mensch mit Rheuma unter Angst- oder depressiven Symptomen. Da fällt es dann nochmal schwerer, sich einen neuen Rheumatologen zu suchen.

Was müsste geschehen, damit sich das ändert?

Minden: Ideal wäre es, wenn die Betroffenen sich gemeinsam mit dem Kinder-Rheumatologen einen Weiterbehandler suchen, einen Termin vereinbaren und einen zusammenfassenden Befundbericht mitnehmen, damit keine Informationen verloren gehen. Unsere Studie hat gezeigt, dass das nicht immer passiert und die Patient:innen sich mehr Unterstützung bei der Suche nach dem Weiterbehandler wünschen.

Wie ließe sich, neben der Einbindung von Psychologen, bei den Patient:innen das Bewusstsein dafür stärken, dass eine kontinuierliche Behandlung wichtig ist?

Minden: Da ist Aufklärung der Schlüssel. Gefragt sind hier zunächst die Kinder-Rheumatologen – sie müssen den jungen Menschen noch deutlicher vermitteln, dass Rheuma eine chronische Erkrankung ist und die Therapie auch dann oft weitergehen muss, wenn jemand keine Beschwerden mehr hat. Das schafft man nicht immer in einer Sprechstunde. Deshalb gibt es zum Beispiel Wochenendcamps, die auch von den Fachgesellschaften und der deutschen Rheumaliga unterstützt werden – dort werden in kleineren Gruppen viele Informationen vermittelt und die Betroffenen dabei unterstützt, ihre Erkrankung besser zu managen. Es gibt auch eine Website mit vielen hilfreichen Tipps und eine Versorgungslandkarte, wo man Rheumatologen für die Weiterbetreuung finden und kontaktieren kann.

Was wünschen Sie sich von der neuen Regierung im Hinblick auf die Behandlung von jungen Erwachsenen mit Rheuma?

Minden: Wir wünschen uns mehr Unterstützung für die Transitionsmedizin, die den Übergang vom Kinder- zum Erwachsenenalter begleitet, in der Rheumatologie, aber auch bei anderen chronischen Erkrankungen. Wir brauchen in dieser sensiblen Übergangsphase eine multidisziplinäre Betreuung chronisch kranker Menschen – nicht nur in Spezialambulanzen, sondern als Teil der Regelversorgung.

Weiterführender Link:

https://dgrh.de/

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