Dass seltene Erkrankungen ein wichtiges Thema sind – das könne man sogar am Koalitionsvertrag ablesen, so Lorenz Maroldt, Herausgeber beim Tagesspiegel, bei der Begrüßung der Veranstaltung seines Hauses mit dem Titel: Die neue Regierung und die Versorgung von seltenen Erkrankungen. Im Vertrag heißt es: „Wir ergreifen weitere Maßnahmen, um die gesundheitliche Situation von Betroffenen seltener Erkrankungen, zum Beispiel durch Ausbau und Stärkung von digital vernetzten Zentren zu verbessern.“ Und auch die Gen- und Zelltherapien sind erwähnt, die gerade bei der Entwicklung von künftigen Behandlungsmöglichkeiten für Menschen mit seltenen Erkrankungen ein Hoffnungsträger sind. Noch einmal der Koalitionsvertrag: „Wir führen eine zeitgemäße Regelung von Zell- und Gentherapien in der Forschung ein.“

Wie das aussehen könnte, skizzierte zu Beginn der frischgebackene Bundestagsabgeordnete und HIV-Experte Prof. Dr. Hendrik Streeck (CDU/CSU). Denn gerade für die Seltenen gilt: Weil das Wissen über den Globus verteilt und per Definition „selten“ ist, müssen die Schnipsel an Wissen förmlich zusammengekratzt werden, um eine seltene Erkrankung überhaupt verstehen zu können. „Aber es fehlt eine gemeinsame Datenbasis, es fehlt die Vernetzung“, so der Wissenschaftler. „Deshalb müssen wir zu einem Kulturwechsel kommen, wie wir mit Gesundheitsdaten umgehen. Wir wollen eine Opt-Out-Kultur etablieren, indem sichergestellt wird, dass zunächst einmal alle Daten anonym zur Verfügung gestellt werden. Das wollen wir in dieser Regierung verbessern.“ Die Medizin steuere – und das nicht nur bei den Seltenen – auf eine „individualisierte und personalisierte Therapie“ zu. Die Hindernisse abzubauen, die die Forschung in diesem Bereich hemmen – auch das versprach der CDU-Politiker.
Was sind seltene Erkrankungen, von denen es – je nachdem, wen man fragt – 6.000, 7.000 oder sogar 8.000 gibt und die im Einzelfall so selten sind, dass sie bisher nur bei einem Menschen diagnostiziert wurden? Per Definition gilt in der EU eine Krankheit als selten, wenn höchstens fünf von 10.000 Menschen betroffen sind. Jedes Jahr kommen rund 250 Krankheiten dazu. Das Sortiment an Arzneimitteln, die gegen seltene Erkrankungen verfügbar sind, wächst seit Jahren. Heute stehen in der Europäischen Union (EU) 149 solcher Orphan Drugs zur Verfügung. Hinzu kommen 96 Präparate, die den Orphan-Status nicht mehr besitzen, z.B., weil er verordnungsgemäß nach zehn Jahren abgelaufen ist, aber weiter verschrieben werden können. Die Suche nach innovativen Therapien für solche Krankheiten ist schon seit Jahren einer der Schwerpunkte forschender Pharmaunternehmen. Dabei geholfen hat die seit 2000 geltende europäische Verordnung zu Arzneimitteln gegen seltene Krankheiten, deren Ziel es ist, die Forschung und Entwicklung in diesem Bereich zu fördern. Von den jährlich neu eingeführten Medikamenten machen sie mittlerweile rund ein Drittel aus; zurzeit werden laut Pharmaverband vfa weitere rund 2.700 Arzneimitteltherapien entwickelt. Trotz der Erfolge gilt: Rund 95 Prozent der Seltenen sind bis heute nicht ursächlich behandelbar – es gibt noch sehr viel zu tun.
„Erfolgsgeschichte“: Mehr Therapien gegen seltene Erkrankungen
Der SPD-Gesundheitspolitiker und Bundestagsabgeordnete Matthias Mieves, der auch am Koalitionsvertrag mitgeschrieben hat, sieht große Chancen, dass die neue Regierung konkrete Verbesserungen für Menschen mit seltenen Erkrankungen erreichen kann. Er sieht drei Dimensionen: „Wir brauchen in Summe bessere Daten. Und wir müssen schauen, dass diese Daten ihren Weg in die Erforschung neuer Therapien finden.“ Außerdem müsse es darum gehen, die Orphan-Drugs-Erfolgsgeschichte fortzuschreiben. „Weil wir eine Bevorzugung dieser Medikamente haben, ist es uns gelungen, eine Vielzahl neuer Therapien auf den deutschen Markt zu bringen – und damit vielen Menschen zu helfen.“ Außerdem will die Koalition die Versorgungsstrukturen verbessern – unter anderem, indem spezialisierte klinische Zentren ausgebaut und aufgewertet werden. Mieves´ übergreifendes Ziel: Innovationen für alle Menschen in Deutschland verfügbar zu machen.

Auch Dr. Christine Mundlos, stellvertretende Geschäftsführerin bei der Allianz für seltene Erkrankungen (ACHSE), sieht viel in Bewegung. Im Rahmen eines Modellvorhabens ist es seit einiger Zeit möglich, Menschen mit seltenen Erkrankungen eine Ganzgenomsequenzierung anzubieten: „Das ist großartig – das gibt es so wohl in keinem anderen Land.“ Die Hoffnung ist, schneller zu eindeutigen Diagnosen zu kommen. Auch die 37 Zentren für seltene Erkrankungen hob sie hervor. Und natürlich die zahlreichen Arzneimittelinnovationen der vergangenen Jahre. „Das ist großartig, wir freuen uns um jedes neue Medikament. Aber einige Therapien müssen schon Kleinkindern gegeben werden und wir wissen gar nicht, wo die sind.“ Der Grund: Es gibt keine Register für solche Erkrankungen und die wenigen Daten, die es gibt, sind nicht zentral abrufbar, geschweige denn: strukturiert. Da ist es wieder das Thema: Deutschland und seine Daten.
Hinzu kommt: „Die Menschen kämpfen im Alltag um ihre Hilfs- und Heilmittel, um Unterstützung, sie kämpfen mit den Umständen, die sich aus ihrer Erkrankung ergeben.“ Ein zentrales Thema der Tagesspiegel-Veranstaltung: Die Infrastruktur ist noch nicht da, wo sie sein könnte, um Menschen mit solchen Erkrankungen systembedingte Hürden aus dem Weg zu räumen.
Wissenschaftler fordert Mentalitätswechsel
Das weiß auch Professor Dr. Christoph Klein, Leiter des Zentrums für seltene Erkrankungen in München. „Wenn jemand mit einem Verdacht auf eine seltene Erkrankung zu uns kommt und es kein akuter lebensbedrohlicher Zustand ist, dann warten die locker mal sechs bis acht Monate, bis sie einen Termin bekommen.“ Seine Diagnose lautet: „Die Kindermedizin in Deutschland ist unterfinanziert.“ Professor Klein fordert deshalb „mehr Respekt für die Lebenswirklichkeit unserer Kinder.“ Und gleichzeitig einen Kulturwandel im Bereich der Innovationen. Sein Beispiel: Die Tatsache, dass in den USA innerhalb von sieben Monaten eine Präzisionsmedizin für ein Kind mit einer sehr seltenen Stoffwechselerkrankung entwickelt und angewandt wurde. „Das wäre in Deutschland völlig unmöglich – aufgrund der regulatorischen Bürokratie und aufgrund der Mentalität.“ Seiner Meinung nach mangelt es nicht an guten Ideen, aber „für jede gute Idee gibt es mindestens zwei Dutzend Gründe, warum wir sie nicht durchsetzen.“ Deshalb würden mittlerweile 90 Prozent der Studien zu Gen- und Zelltherapien in den USA und China durchgeführt – in Deutschland so gut wie gar nicht mehr.

Keine Debatte über Aspekte des deutschen Gesundheitssystems ohne eine Kostendiskussion: Sowohl Mieves von der SPD als auch Professor Dr. Armin Grau von Bündnis 90/ Die Grünen betonten, wie wichtig die Balance zwischen der Versorgung der Menschen mit Innovationen und den steigenden Ausgaben für diese Arzneimittel sei. Doch gilt auch, dass der einseitige Blick auf die Ausgaben gerade von Orphan Drugs, die oft die erste kausale Behandlungsmöglichkeit für eine seltene Erkrankung darstellen, irreführend sein kann. Denn natürlich steigen die Kosten, wenn gezielt Arzneimittel in die Versorgung kommen, die es vorher nicht gab. Die Arbeitsgemeinschaft Therapie Seltene Erkrankungen (ATSE), hinter der acht forschende Unternehmen stehen, hat sich die Kostenaspekte angesehen und kommt in ihrer Untersuchung zu dem Fazit: „Studien zur Preisentwicklung von Orphan Drugs kamen zu dem Ergebnis, dass seit Einführung des AMNOG im Jahr 2011 die inflationsbereinigten normalisierten Behandlungskosten für Orphan Drugs um 6 Prozent gesunken sind, unter Berücksichtigung der verhandelten Erstattungsbeträge sogar um 24 Prozent (Stand 2024).“ Und gleichzeitig „zeigen Analysen, dass die Verfügbarkeit einer innovativen Therapie einen positiven Wert schafft und die finanzielle Belastung für Familien und Gesundheitssysteme vermieden werden. Orphan Drugs stellen also keine unangemessene finanzielle Belastung dar, sondern leisten einen nachhaltigen Beitrag zur medizinischen Versorgung.“ Es gibt wenig Gründe, an der deutschen Erfolgsgeschichte (O-Ton SPD-Mann Mieves) etwas umzuschreiben.
Weiterführender Link:
Tagesspiegel Fachforum Gesundheit: „Die neue Regierung und die Versorgung von seltenen Erkrankungen.“
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Viele Mythen ranken sich um seltene Erkrankungen: Pharmaunternehmen interessieren sich nicht dafür, so ist immer wieder zu hören. Außerdem seien „Orphan Drugs“ Kostentreiber im Gesundheitssystem. Die Arbeitsgemeinschaft Therapie Seltene Erkrankungen (ATSE) hat solche Aussagen unter die Lupe genommen. Das ist gerade auch vor dem Hintergrund der laufenden Koalitionsverhandlungen wichtig. Denn die Politik kann die Versorgung der Patient:innen nur dann zielgerichtet verbessern, wenn sie Entscheidungen auf Basis von Fakten trifft.

Orphan Drugs: Für eine bessere Versorgung der Patient:innen
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Ist ein Medikament als Orphan Drug zugelassen, heißt das: Es ist die einzige Behandlungsmöglichkeit oder von erheblichem Zusatznutzen für die Patient:innen mit einer seltenen Erkrankung. Davon braucht es mehr – der ungedeckte medizinische Bedarf ist riesig. Bestehende Regelungen, die Forschung fördern und die Verfügbarkeit neuer Medikamente verbessern, müssen daher erhalten werden.