Die Arbeitsgemeinschaft Therapie Seltene Erkrankungen (ATSE) hat gängige Mythen zu Orphan Drugs unter die Lupe genommen. Denn rationale Politik, welche die Versorgung der Patient:innen verbessert, ist nur faktenbasiert möglich. Foto: iStock.com/Ivan-balvan
Die Arbeitsgemeinschaft Therapie Seltene Erkrankungen (ATSE) hat gängige Mythen zu Orphan Drugs unter die Lupe genommen. Denn rationale Politik, welche die Versorgung der Patient:innen verbessert, ist nur faktenbasiert möglich. Foto: iStock.com/Ivan-balvan

Seltene Erkrankungen: Mythen zu Orphan Drugs im Faktencheck

Viele Mythen ranken sich um seltene Erkrankungen: Pharmaunternehmen interessieren sich nicht dafür, so ist immer wieder zu hören. Außerdem seien „Orphan Drugs“ Kostentreiber im Gesundheitssystem. Die Arbeitsgemeinschaft Therapie Seltene Erkrankungen (ATSE) hat solche Aussagen unter die Lupe genommen. Das ist gerade auch vor dem Hintergrund der laufenden Koalitionsverhandlungen wichtig. Denn die Politik kann die Versorgung der Patient:innen nur dann zielgerichtet verbessern, wenn sie Entscheidungen auf Basis von Fakten trifft.
Seltene Erkrankungen: Mythen zu Orphan Drugs im Faktencheck
Für 95% der bekannten rund 8.000 „rare diseases“ stehen keine zugelassenen Therapien zur Verfügung. Foto: ©iStock.com/Natali_Mis

Wie wollen Union und SPD gemeinsam die Zukunft Deutschlands gestalten? 256 Vertreter:innen der Parteien diskutieren in 16 Arbeitsgruppen über diese Frage. Gesundheitspolitik dürfte dabei ein wichtiges Thema sein: Schließlich stehen zunehmende Finanzierungslücken im GKV- und Pflegesystem einer langfristig guten Versorgung der Menschen in der Bundesrepublik entgegen. Was wollen die Parteien konkret tun, sodass einerseits die Patient:innen die bestmögliche Behandlung erhalten und andererseits die Kosten nicht aus dem Ruder laufen? (Mehrere Politiker:innen – u.a. von CDU/CSU und SPD – standen auf Pharma-Fakten.de Rede und Antwort.)

Auch mit Blick auf seltene Erkrankungen ist viel zu tun. Trotz Forschung, trotz großer medizinischer Fortschritte stehen noch immer für 95 Prozent der bekannten rund 8.000 „rare diseases“ keine zugelassenen Therapien zur Verfügung. Doch immer wieder werden Stimmen laut, die bestimmte Regelungen, welche in Europa und Deutschland Forschung fördern und die Verfügbarkeit neuer Medikamente verbessern, in Frage stellen. Selbst in der politischen Diskussion würden teilweise „Tatsachen fehlerhaft bzw. unpräzise dargestellt“, so die ATSE, hinter der die Firmen Alexion, BioMarin, Bristol Myers Squibb, Chiesi, Ipsen, Takeda, UCB und Vertex stehen. In einem neu veröffentlichten Papier schreiben sie: „Gerade in diesem sensiblen Bereich, der vielen Patientinnen und Patienten einen Zugang zu häufig lebensrettenden Therapien bietet, ist dies jedoch fahrlässig. Auf der Basis fehlerhafter oder unpräziser Fakten kann keine rationale Politik aufbauen. Um dem entgegenzuwirken und die Versorgung nicht zu gefährden,“ haben die Unternehmen gängige Mythen unter die Lupe genommen.

Gute Rahmenbedingungen für Pharmaforschung

Gute Rahmenbedingungen für Pharmaforschung
Innovative Forschung: Die Rahmenbedingungen müssen stimmen. Foto: ©iStock.com/AaronAmat

„Pharmaunternehmen interessieren sich nicht für die Entwicklung von Orphan Drugs“, heißt es oft. Diesem Vorwurf liegt ein Missverständnis darüber zugrunde, wie pharmazeutische Firmen funktionieren: Sie sind privatwirtschaftlich organisiert. Das heißt: Nur wenn sie wirtschaftlich erfolgreich sind, können sie bestehen bleiben und an neuen Behandlungsmöglichkeiten forschen. Denn mit den Einnahmen von heute finanzieren sie ihre Forschung und somit die Wirkstoffe von morgen. In die jahrelange, kosten- und ressourcenintensive Entwicklung von Therapien investieren, die es im Zweifel nicht mal ans Krankenbett schaffen – das ist sehr viel mehr als nur eine Frage des Interesses. Es müssen die Rahmenbedingungen stimmen.

Lange Zeit waren die Weichen nicht auf Innovation gestellt: „Vor der Einführung der europäischen Orphan-Drug-Verordnung im Jahr 2000 (EG 141/2000) gab es europaweit nur wenige zugelassene Orphan Drugs“, erklärt die ATSE. „Grund dafür war eine Reihe von Herausforderungen, wie z.B. hohe Forschungskosten bei geringen Patientinnen- und Patientenzahlen und damit begrenzten Absatzmöglichkeiten.“ Die Forschung in diesem Bereich war „für privatwirtschaftliche Unternehmen bis dahin höchst risikobehaftet.“ Die europäische Orphan-Drug-Verordnung hat eine Trendwende eingeläutet – und spezielle Anreize etwa in Form von Marktexklusivität gesetzt: Seit 2000 wurden mehr als 240 Orphan Drugs in Europa zugelassen. „Pharmaunternehmen haben somit gezeigt, dass sie unter guten Rahmenbedingungen aktiv in die Erforschung und Entwicklung von Therapien für seltene Krankheiten investieren. Nicht umsonst unterhalten viele größere Pharmaunternehmen inzwischen sogar eigene Orphan Drug-Einheiten in ihren Forschungs- und Entwicklungsabteilungen“, berichtet die ATSE.

Orphan Drug: Therapeutischer Solist bzw. von erheblichem Nutzen

Orphan Drug: Therapeutischer Solist bzw. von erheblichem Nutzen
Orphan Drugs unterliegen strengen Voraussetzungen. Foto: iStock.com/Ivan-balvan

„Orphan Drugs durchlaufen keine Prüfung des Zusatznutzens“ – so lautet ein weiterer Mythos. Fakt ist: Damit ein Medikament in Europa als „Orphan Drug“ gefördert wird, muss es strenge Voraussetzungen erfüllen – dazu gehört, dass es „neben der Seltenheit und der Schwere der Erkrankung einen signifikanten Nutzen aufweist.“ Dieser ist gegeben, „wenn keine geeigneten Therapiealternativen bestehen“ – oder „das Medikament nachweislich einen erheblichen Zusatznutzen gegenüber der zugelassenen Standardtherapie bietet.“ Die ATSE fasst zusammen: „Um den Orphan-Drug Status zu erhalten, muss also bereits auf europäischer Ebene ein Zusatznutzen nachgewiesen werden.“

Folgerichtig gilt der Zusatznutzen im nachgelagerten deutschen Verfahren der Nutzenbewertung und darauf basierenden Preisverhandlung („AMNOG“) durch die europäische Zulassung als bereits „belegt“. Der Gemeinsame Bundesausschuss befasst sich lediglich mit dem Ausmaß. Übersteigt der Jahresumsatz jedoch 30 Millionen Euro, erfolgt eine vollständige AMNOG-Nutzenbewertung. „Orphan Drugs sind also keineswegs von einer Nutzenbewertung ausgenommen, sondern durchlaufen in vielen Fällen sogar eine doppelte Prüfung auf europäischer und nationaler Ebene.“

Seltene Erkrankungen: Mehr Innovation notwendig

Innovationen der Pharmabranche
Seltene Erkrankungen: Mehr Innovation notwendig. Foto: ©iStock.com/Zerbor

Das heißt: Im AMNOG erhalten sie kein ungerechtfertigtes Privileg, keine Sonderbehandlung. Vielmehr ist die deutsche Regelung eine „notwendige Voraussetzung für Innovationen in diesem Bereich“, betonen die Firmen. Denn das AMNOG-Verfahren ist – anders als die Bewertung auf europäischer Ebene – nicht auf die Besonderheiten von Orphan Drugs zugeschnitten.

Evidenzgenerierung in Form von randomisiert kontrollierten Studien ist da häufig nicht möglich: „Bei seltenen Erkrankungen sind die Patientenpopulationen klein, heterogen und oft räumlich weit verteilt, wodurch auch die Beteiligung von genügend Studienzentren häufig erschwert ist. Oftmals sind Kinder betroffen. Bereits die Anreise an weit entfernte Studienzentren stellt für schwer erkrankte Patientinnen und Patienten und ihre Familienmitglieder eine große Hürde dar.“ Vergleichsstudien stoßen womöglich an Grenzen, wenn es keine Alternativtherapien gibt. Auch ethische Gründe spielen eine Rolle, sodass Studien mit Kontrollgruppen nicht immer durchführbar sind.

Kurz gesagt: Orphan Drugs können oft nicht dieselben Anforderungen an Daten und Studiendesigns erfüllen wie etwa Medikamente gegen Volkskrankheiten. Die mögliche Folge: Im Zweifel erkennt das AMNOG-Verfahren den Innovationsgrad eines Präparats nicht, weil seine Methodik nicht dafür geeignet ist – und das kann sich auf die Preisverhandlungen und letztlich auf die Verfügbarkeit des Arzneimittels auswirken.

Orphan Drugs und die Sache mit dem Geld

Orphan Drugs und die Sache mit dem Geld
F&E bei Orphan Drugs ist sehr langwierig, risikoreich und teuer. Foto: ©iStock.com/nensuria

Förderungen auf europäischer sowie spezielle Regelungen auf nationaler Ebene – lässt sich die Pharmaindustrie damit die Entwicklung von Orphan Drugs übermäßig bezahlen? „Das Geschäftsmodell der pharmazeutischen Industrie unterscheidet sich von dem der meisten anderen Branchen“, kommentiert die ATSE. Die Forschung und Entwicklung ist sehr langwierig, risikoreich und teuer – bei Orphan Drugs vergehen dabei im Schnitt mehr als 15 Jahre. Rund 94 Prozent aller Präparate gegen seltene Erkrankungen schaffen es nicht durch alle Phasen der klinischen Prüfung und bis in die Versorgung. „Diese massiven Unsicherheiten […] stehen im Gegensatz zu der begrenzten Anzahl potenzieller Patientinnen und Patienten, die diese Medikamente benötigen.“

Für Pharmaunternehmen ist essenziell, dass ihre Forschungsausgaben durch Einnahmen aus zugelassenen Arzneimitteln gedeckt werden – nur dann können sie weiterhin an neuen Therapieansätzen arbeiten. Ohne die Unterstützung über Anreize, wie sie zum Beispiel die europäische Verordnung EG 141/2000 bietet, „wären viele privatwirtschaftlich agierende Pharmaunternehmen kaum in der Lage, das hohe finanzielle Risiko einzugehen, das mit der Erforschung und Entwicklung von Orphan Drugs verbunden ist“, sagen die ATSE-Beteiligten.

Kann sich Deutschland den medizinischen Fortschritt leisten?

Kann sich Deutschland den medizinischen Fortschritt leisten?
Orphan Drugs leisten einen nachhaltigen Beitrag zur medizinischen Versorgung. Foto: ©iStock.com/Pornpak Khunatorn

Dass insbesondere seit 2000 immer mehr Therapien gegen seltene Leiden verfügbar werden, ist eine Erfolgsgeschichte. Die Versorgung der Patient:innen ist „so gut wie noch nie“, heißt es seitens der ATSE. Können wir uns diesen medizinischen Fortschritt überhaupt leisten? Mehr Orphan Drugs auf dem Markt bedeuten „grundsätzlich auch höhere Ausgaben“, schreiben die Firmen. „Dies ist eine natürliche Entwicklung, die, wie im Gesamtmarkt auch, durch Patentabläufe gedämpft wird.“ Der Anteil aller Arzneimittel an den Gesamtausgaben der GKV liegt seit Jahren konstant zwischen 16 Prozent und 17 Prozent – inklusive Industrie, Apotheken, Großhandel, Mehrwertsteuer. Zuletzt sind die Arzneimittelausgaben inflationsbedingt, also real, sogar gesunken – von Kostentreiberei keine Spur.

Die ATSE ergänzt: „Studien zur Preisentwicklung von Orphan Drugs kamen zu dem Ergebnis, dass seit Einführung des AMNOG im Jahr 2011 die inflationsbereinigten normalisierten Behandlungskosten für Orphan Drugs um 6% gesunken sind, unter Berücksichtigung der verhandelten Erstattungsbeträge sogar um 24% (Stand 2024).“ Und gleichzeitig „zeigen Analysen, dass die Verfügbarkeit einer innovativen Therapie einen positiven Wert schafft und die finanzielle Belastung für Familien und Gesundheitssysteme vermieden werden. Orphan Drugs stellen also keine unangemessene finanzielle Belastung dar, sondern leisten einen nachhaltigen Beitrag zur medizinischen Versorgung“, so das Fazit.

Weiterführender Link: ATSE, Mythen und Fakten zu seltenen Erkrankungen und Orphan Drugs

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