Die Grafik (s. oben) aus den neu veröffentlichten „AMNOG-Daten 2022“ des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie (BPI) bringt es auf den Punkt: Klar und deutlich bildet sie ab, wie wenig sich bei dem Anteil der Arzneimittelausgaben an den Gesamtausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) tut. Es sind keine großen Ausbrüche nach oben oder unten zu sehen. „Die Kurve zeigt für die letzten 16 Jahre einen stationären Verlauf mit nur geringfügigen Abweichungen vom Trendwert, der einschließlich der beiden Corona-Ausnahmejahre 17,2 Prozent beträgt“, schreiben die Autoren Prof. Dr. Dieter Cassel (Uni Duisburg-Essen) und Prof. Dr. Volker Ulrich (Uni Bayreuth). Das Fazit der beiden Ökonomen: „Die GKV-Arzneimittelausgaben haben sich […] auffällig ‚unauffällig’ entwickelt.“
Von 2011 bis 2021 „sind die Arzneimittelausgaben im Trend jährlich mit einer Rate von 4,83 Prozent deutlich geringer gestiegen als die [GKV-]Gesamtausgaben, die jahresdurchschnittlich mit 5,43 Prozent über ein halbes Prozent mehr zugelegt haben.“ Ungebremste Ausgabendynamik? Fehlanzeige. Wären (neue) Medikamente die Treiber einer Entwicklung, die die finanzielle Stabilität des Gesundheitssystems gefährdet, müssten die GKV-Arzneimittelausgaben durchweg stärker steigen als die GKV-Gesamtausgaben. Dem ist nicht so.
Gefordert: „Fairer Umgang mit Zahlen, Daten und Fakten“
Trotzdem soll die pharmazeutische Industrie durch das kürzlich beschlossene GKV-Finanzstabilisierungsgesetz überproportional belastet werden (s. Pharma Fakten). Angesichts dessen hatten Geschäftsführer:innen führender Pharmaunternehmen in einem Brief an die Abgeordneten des Bundestages schlicht einen „fairen Umgang mit Zahlen, Daten und Fakten“ gefordert. Auch das IGES-Institut war in einer Studie nämlich zu dem Schluss gekommen, dass sich bei Arzneimitteln über einen längeren Zeitraum (2009-2021) höchstens ein „unterdurchschnittlicher Ausgabenanstieg“ feststellen lässt. Außerdem entfallen (ohne Distributionswege wie Apotheken und ohne Mehrwertsteuer) nur rund 12 Prozent der GKV-Gesamtausgaben auf die Arzneimittelhersteller (s. Pharma Fakten).
Die Krankenkasse AOK fordert dessen unbeirrt weitere Kostendämpfungsmaßnahmen im Arzneimittelmarkt – und verweist auf 2021 deutlich gestiegene Nettoausgaben. In den AMNOG-Daten des BPI schreiben Cassel und Ulrich: „Ausnahmejahre wie 2020 oder 2021 sollten grundsätzlich nicht zur Begründung von Regulierungsmaßnahmen herangezogen werden. Gerade die Corona-Pandemie hat die zentrale Bedeutung von medizinischem Fortschritt durch neue Impfstoffe, Arzneimittel und Diagnostika verdeutlicht. Es zeigt sich, dass der Ausgabenanteil für Arzneimittel […] im Verlauf der letzten Jahre stabil […] liegt.“ Von einer „Kostenexplosion“ könne „trotz aller pharmatherapeutischen Fortschritte keine Rede sein.“
Einen „relativ starken Zuwachs der GKV-Arzneimittelausgaben“ in 2021 konnte übrigens auch das IGES-Institut feststellen: Es kam in seinen Berechnungen auf ein Plus von 7,6 Prozent. Zum Vergleich: Im Durchschnitt der Jahre 2009 bis 2021 waren es plus 3,7 Prozent. Aber die jüngste Entwicklung geht auch auf regulatorische Eingriffe zurück: So war im 2. Halbjahr 2020 die Mehrwertsteuer auf Arzneimittel abgesenkt und im Jahr darauf wieder angehoben worden – mit entsprechendem Effekt auf die Kostenentwicklung 2021. Rechnet man derartige Sondereffekte heraus, lag die Steigerung laut IGES bei nur 4,8 Prozent – und das in einem Pandemiejahr.
Arzneimittelversorgung in Deutschland: Gute Ausgangslage
„Die Arzneimittelversorgung hat in Deutschland ein hohes Niveau, was sich im raschen Zugang der Patientinnen und Patienten zu neu zugelassenen Medikamenten, resilienten Lieferketten und immer weiteren Arzneimittelinnovationen – auch gegen seltene Erkrankungen – äußert“, betont Han Steutel, Präsident des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa), in einem Beitrag für den Arzneimittel-Kompass 2022 der AOK.
Das liegt auch am AMNOG – das seit 2011 gültige Gesetz, das regelt, dass sich der Preis eines neuen Arzneimittels an dessen Zusatznutzen gegenüber einer bereits verfügbaren Therapie orientieren soll. In diesem Zuge gab es in den vergangenen 11 Jahren 671 abgeschlossene Nutzenbewertungen, heißt es in den BPI-AMNOG-Daten. Allein diese Zahl belegt: Das Prozedere ist inzwischen fest etabliert. Es führt dazu, dass in keinem anderen europäischen Land die Patient:innen so schnell Zugang zu neuen Arzneimitteln erhalten wie hierzulande – denn Innovationen werden unmittelbar nach Zulassung erstattet, die Rabattverhandlungen mit den Kassen finden nachgelagert statt.
GKV-Spargesetz: Gefahr für Versorgung & Forschung
Diese gute Situation könnte sich bald ändern. Warum? Siehe die Regelungen im GKV-Finanzstabilisierungsgesetz: Als besonders problematisch gelten die geplanten Änderungen im AMNOG-Verfahren. Folgendes Beispiel: Neue Arzneimittel, die bei der Nutzenbewertung als gleich gut („kein Zusatznutzen“) eingestuft werden wie die Vergleichstherapie, sollen dem neuen Gesetz zu Folge bei der Erstattung in vielen Fällen abgewertet werden – sie müssen einen Preisabschlag von mindestens 10 Prozent hinnehmen. Dabei bedeutet ein nicht belegter Zusatznutzen nicht, dass ein neues Arzneimittel tatsächlich keinen Zusatznutzen hat. In 80 Prozent der Fälle wurde schlicht und einfach das „Bewertungsverfahren aus verschiedenen Gründen nicht abgeschlossen“ – oder es kam „erst gar nicht in Gang“, erklären Cassel und Ulrich. Und selbst wenn Arzneimitteln einen Zusatznutzen attestiert wird, sollen sie diesen in Zukunft häufig nicht mehr monetarisieren können – nicht nur die Pharmaindustrie, auch Expert:innen aus der Medizin befürchten, dass das die Versorgung der Menschen mit innovativen Arzneimitteln in Deutschland verschlechtern und innovative Forschung hemmen wird (s. Pharma Fakten).
Bereits jetzt lägen „die durch das AMNOG regulierten Arzneimittelpreise häufig unter dem europäischen Durchschnitt […], was in zunehmenden Parallelexporten resultiert“, sagt Han Steutel, vfa. Dabei wird ein Medikament von sogenannten Parallelhändlern auf dem hiesigen Markt aufgekauft und in ein anderes EU-Land zur dortigen Vermarktung exportiert. Lohnen kann sich das nur, wenn der Händler anderswo einen besseren Preis erzielen kann. In den BPI-AMNOG-Daten heißt es: „Im vergangenen Jahr gab es über 160 AMNOG-Präparate mit Deutschland als Herkunftsland, die Parallelhändler bei der European Medicines Agency angemeldet hatten, aber nur etwas über 80 Anmeldungen für Präparate, die Deutschland als Ziel hatten“. Steutel warnt: „Sobald erneut die Preise durch obligatorische Rabatte jeglicher Art gesenkt werden, kann der Warenabfluss zunehmen und zu Versorgungsengpässen führen.“
Klar ist: Die Gesundheitssysteme haben auf lange Sicht ein Nachhaltigkeits-Problem – Treiber sind alternde Bevölkerungen, chronische Krankheiten, Multimorbidität, Herausforderungen wie der Klimawandel. Es gilt, Innovationen zu fördern anstatt zu hemmen. Dann kann die forschende Pharmaindustrie eine Antwort auf diese Krisen sein: als eine Branche, die mit Spitzenforschung und ihren Produkten dazu beiträgt, dass Menschen länger gesund an Gesellschaft und Arbeitsleben teilhaben; die auch in schwierigen Zeiten ein Anker für Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand ist.
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