Sind Arzneimittel der Schlüssel für eine bessere Zukunft oder ein reiner Kostenfaktor? Die Frage haben führende Expert:innen auf einer Veranstaltung des 23. Europäischen Gesundheitskongresses in München diskutiert. Foto: ©iStock.com/guteksk7
Sind Arzneimittel der Schlüssel für eine bessere Zukunft oder ein reiner Kostenfaktor? Die Frage haben führende Expert:innen auf einer Veranstaltung des 23. Europäischen Gesundheitskongresses in München diskutiert. Foto: ©iStock.com/guteksk7

Arzneimittel: Was sie so alles können

Sind Arzneimittel der Schlüssel für eine bessere Zukunft oder ein reiner Kostenfaktor? Die Frage haben führende Expert:innen auf einer Veranstaltung des 23. Europäischen Gesundheitskongresses in München diskutiert.
Professor Christof von Kalle, Arzt und Wissenschaftler an der Charité
Professor Christof von Kalle, Arzt und Wissenschaftler an der Charité. Foto: PF

„Medizinische Innovationen haben zu einer fortwährend steigenden Lebenserwartung geführt“ – das sagt Professor Christof von Kalle, Arzt und Wissenschaftler an der Charité und einer der führenden Onkologen dieses Landes. Gerade bei den Herzkreislauf-Erkrankungen und zunehmend auch bei Krebs sehe man, wie sich die Sterblichkeit verringert habe bzw. verringere: „Daran haben Arzneimittel einen erheblichen Anteil“, so von Kalle. Und betont: „Viele der Arzneimittel, die wir im kardiovaskulären Bereich einsetzen, wirken präventiv: Man senkt den Blutdruck, man stellt die Blutfettwerte ein, man schaut auf das Risikoprofil – und behandelt die Probleme, die zu der späteren Erkrankung, wie zum Beispiel Herzinfarkt oder Schlaganfall führen.“ Mehr oder weniger in Vergessenheit geraten sieht er den Nutzen moderner Medizin im Bereich etwa der Säuglings- oder Kindsbettsterblichkeit. Oder „wie die pharmazeutische Entwicklung das HIV-Problem aus dem Feuer gerissen hat.“ Oder bei den Covid-Impfstoffen, die die Pandemie in ihrer Auswirkung doch stark begrenzt haben. „Vor allem in Deutschland haben wir diese Nabelschau der Kosten und können uns deshalb zu wenig über die Effekte freuen.“

In Bezug auf Krebs sieht Wissenschaftler von Kalle das Problem, dass viel zu wenig im Bereich der Prävention getan wird. „Gleichzeitig haben wir einen sehr rapiden klinisch-therapeutischen Fortschritt.“ Der sich in den kommenden Jahren noch beschleunigen wird – Stichwort: personalisierte Medizin. „Genetische Untersuchungen bei Krebserkrankungen erlauben uns, eine völlig andere Art der Diagnostik zu machen. Da ist noch ganz viel Potenzial.“

Bezahlbarkeit: Hypnotisierung auf die Arzneimittelkosten

Auch zur Bezahlbarkeit von moderner Medizin hat Christof von Kalle eine klare Meinung: „Da haben wir immer so eine Hypnotisierung auf die Arzneimittelkosten.“ Für die Krebspräparate, „wo wir immer hören, dass sie das System zu Fall bringen, wenn wir personalisierte Medizin machen, sehen wir: Sie machen rund 20 Prozent der Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenkassen aus, ungefähr 4 Prozent der GKV-Einnahmen und entsprechen 0,4 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Wenn sich das bis morgen verdoppeln sollte, geht das immer noch im Grundrauschen unter.“ Mit Blick auf die Alkohol- und Tabaksteuer – der Bund nimmt damit pro Jahr 16,4 Milliarden Euro ein – sagt er: „Diese – sagen wir mal – krebsauslösenden Steuern sind fast so hoch wie uns die gesamte Therapie kostet.“

Arzneimittel: Ein „Rezept gegen die Kostenkrankheit“

Professor Dr. Stefan Felder, Gesundheitsökonom an der Universität Basel. Foto: PF
Professor Dr. Stefan Felder, Gesundheitsökonom an der Universität Basel. Foto: PF

Ein Wirtschaftswissenschaftler hat naturgemäß einen anderen Blick auf Arzneimittel. Professor Dr. Stefan Felder, Gesundheitsökonom an der Universität Basel, betont, wie unabhängig von Konjunkturschwankungen der gesamte Gesundheitssektor ist. Selbst in der Finanzkrise der Nuller-Jahre oder während der Pandemie blieben die Gesundheitsausgaben stabil: „Konjunkturell gesehen, ist der Gesundheitssektor viel resilienter als andere Branchen.“ Die demografischen Effekte bei der Entwicklung der Gesundheitsausgaben sieht Felder in der Gesamtbetrachtung als überbewertet an: „Wir werden wohlhabender und die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen steigt mit der Einkommensentwicklung.“

Was den Gesundheitssektor belastet, ist die Arbeitsintensität, so Felder; der Bereich ächzt unter der Baumolschen Krankheit, auch Kostenkrankheit genannt. Sie trifft Berufe, in denen Rationalisierung nur schlecht möglich ist, wie das bei der Betreuung kranker Menschen der Fall ist. In der Digitalisierung sieht der Professor eine Lösungsmöglichkeit, weil viele Prozesse vereinfacht werden können. Das beginnt bei der Hilfe bürokratischer Prozesse und hört mit dem Einsatz von Robotern, die in der Pflege eingesetzt werden können, nicht auf. Auch Arzneimittel sind „ein Rezept gegen die Baumolsche Krankheit“, meint er. So können sie dabei helfen, Verweildauern in Kliniken zu verkürzen oder Konsultationen zu vermindern, und damit zu mehr Effizienz im Gesundheitsbereich beitragen.

Das Arzneimittel als Element des sozialen Friedens?

Prof. Dr. Bertram Häussler, Mediziner und Soziologe
Prof. Dr. Bertram Häussler, Mediziner und Soziologe. Foto: PF

Einen ganzen anderen Punkt macht Prof. Dr. Bertram Häussler. Der Mediziner und Soziologe sieht die Politik seitens der Bevölkerung mit Legitimations- und Loyalitätsproblemen konfrontiert. Der Staat habe sich in der Zeit nach dem Weltkrieg in einen Interventionsstaat entwickelt und damit die Erwartung geschürt, sich um alles zu kümmern. Die Quittung dafür: Funktioniert das nicht, wächst die Unzufriedenheit, verliert das Staatssystem die Loyalität seiner Bürger:innen. Ein Beispiel dafür: Die Diskussion über die Engpässe bei Arzneimitteln. Weil „Gesundheit“ für die Menschen in den vergangenen Jahren immer wichtiger geworden ist, erwarten sie die Verfügbarkeit von Medikamenten im Allgemeinen und die Versorgung mit Arzneimittelinnovationen im Besonderen; erwarten sie die Teilhabe am medizinischen Fortschritt. Häusslers Fazit: Angesichts der Masse an Themen, die die Loyalität der Menschen mit ihrem Staat momentan herausfordern – seien es steigende Preise, Wohnraumangel, Kriege oder Migration – „sollte man loyalitätsstiftende Themen wie Arzneimittel auch einsetzen.“

Nach den 3 Impulsen war das „Arzneimittel als reiner Kostenfaktor“ faktisch abgeräumt. In der anschließenden Diskussion machte Dorothee Brakmann, Chefin vom Verband Pharma Deutschland, klar, dass der intensive Kostendruck auf Arzneimittel ja erst zu Problemen wie Lieferengpässen geführt hat. „Ich werbe dafür, umzudenken. Arzneimittel als Teil der Gesundheitswirtschaft – das ist ein Jobmotor. Wir tragen viel zur Leistungsfähigkeit von Deutschland bei. Wir erhalten die Bevölkerung gesund.“ Dr. Stefan Plenk von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) beleuchtete die Arbeitnehmerperspektive: „Was das Thema Zukunft der Arzneimittel als Schlüsselfaktor betrifft, sind wir mit den Arbeitgebern einer Meinung. Wie vertreten hier circa 1 Million Beschäftigte, die eine Bruttowertschöpfung von rund 90 Milliarden Euro im Jahr erwirtschaften. Es ist ein Sektor mit sehr guten Löhnen.“ Man habe sehr innovative Tarifverträge abgeschlossen, die auch das Sozialsystem stärken, wie etwa eine betriebliche Pflegeversicherung.

Die Politik hat den Wert des Arzneimittels erkannt; in der Nationalen Pharmastrategie heißt es: „Arzneimittel sind unabdingbar für die Gesundheit der Menschen und wesentlicher Faktor des medizinischen Fortschritts. Die pharmazeutische Industrie ist ein Schlüsselsektor und eine Leitindustrie der deutschen Volkswirtschaft. Eine langfristig starke pharmazeutische Industrie ist für die Gesundheitsversorgung und den Wirtschaftsstandort von großer Bedeutung.“ Das Arzneimittel kann eben eine Menge: Es ist ein Instrument, das Gesundheit fördert, Sozialkassen entlasten kann, wirtschaftspolitische Impulse setzt, in konjunkturschwachen Phasen stabilisierend wirkt, hochwertige Arbeitsplätze schafft sowie Forschung, Entwicklung und Innovation incentiviert.

Und ja: Es kostet auch etwas.

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