Die GKV erwartet Milliardenlöcher, der Minister kündigt höhere Beitragssätze an. Eine „maßgebliche Säule des sozialen Friedens“ wird in der Öffentlichkeit an die Wand geredet. Foto: ©iStock.com/deberarr
Die GKV erwartet Milliardenlöcher, der Minister kündigt höhere Beitragssätze an. Eine „maßgebliche Säule des sozialen Friedens“ wird in der Öffentlichkeit an die Wand geredet. Foto: ©iStock.com/deberarr

Die GKV als „Notgroschen fürs Regierungsportemonnaie“?

Offenbar ist so ein Topf voller Geld verlockend: Rund 280 Milliarden Euro kommen im Jahr durch die Beiträge der Krankenversicherten zusammen, weitere 20 Milliarden Euro durch Zusatzbeiträge. Reichen tut das nicht – milliardenschwere Finanzlöcher sind so sicher wie das Amen in der Kirche. Die gesetzlichen Krankenkassen sind sauer, weil die Politik sie zunehmend mit gesamtgesellschaftlichen Aufgaben betraut, die eigentlich aus Steuern bezahlt werden müssten.

Es sind jetzt schon mehr als 9 ungedeckte Milliarden Euro, die die Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) für die Gesundheitskosten von Bürgergeldbeziehenden zahlen müssen. Ungedeckt, weil die Beiträge des Bundes nicht annährend ausreichen. Ein Gutachten des IGES-Instituts zeigt: Die Gesundheitsausgaben für Bürgergeldbeziehende sind nur zu gut einem Drittel gedeckt. 

GKV: Spart der Bund zu Lasten der Beitragszahler?

Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes. Foto: privat
Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes. Foto: privat

Vor diesem Hintergrund ist es aus der Sicht der politischen Entscheidungsträger praktisch, dass es die GKV-Beitragszahler gibt. Diese dürfen die Milliardenlöcher ungefragt finanzieren und eine in interner Kommunikation nur mäßig talentierte Regierung spart sich – wahrscheinlich fruchtlose – ressort-übergreifende Lösungsversuche. Allein mit der Verlagerung der Kosten in das Sozialressort (da gehören sie hin) könnte der Kassenbeitrag um rund einen halben Prozentpunkt gesenkt werden. Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes dazu: „Hier spart der Bund zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung. Mit einer ausreichenden Finanzierung der von den gesetzlichen Krankenkassen zu gewährenden gesundheitlichen Versorgung der Bürgergeldbeziehenden hätten wir zu Jahresbeginn über Beitragssatzsenkungen sprechen können, statt Beitragssatzerhöhungen umsetzen zu müssen.“  

GKV: 74 Millionen Mitglieder, 58 Millionen zahlen Beiträge

Die Krankenversorgung von Bürgergeldbeziehenden ist nur ein Teil der sozialpolitischen Leistungen der GKV – das zeigen diese Zahlen von Statista: Zwar hat die GKV 74,31 Millionen Mitglieder, aber davon zahlen nur 58,14 Millionen Beiträge. 16,16 Millionen Menschen sind beitragsfrei versichert, zum Beispiel Familienangehörige. Die GKV als der älteste Zweig der deutschen Sozialversicherung funktioniert nach dem Solidarprinzip: Nicht das individuelle Krankheitsrisiko ist entscheidend, sondern die wirtschaftliche Kraft der Beitragszahlenden (bis zu einer Obergrenze). Deshalb stehen jedem Mitglied die gleichen Leistungen zu: Ein grandioses Prinzip. Es ist ein System, in dem sich jeden Tag viele Tausende Menschen für die Gesundheit von kranken Menschen einsetzen, ein System, in dem jeden Tag Höchstleistungen abgerufen werden – und das durch politische Diskussionen in der Öffentlichkeit als „Stehend-KO“ wahrgenommen wird.

GKV-Finanzierung: Milliardenschwere Bundeszuschüsse

GKV: Spart der Bund zu Lasten der Beitragszahler?
Beitragszahler: Müssen sie mehr Geld in die Hand nehmen? ©iStock.com/jotily

Immerhin: Der Bund lässt die GKV mit ihren sozialpolitischen Verpflichtungen nicht komplett im Regen stehen. Seit 2004 gibt es den Bundeszuschuss , um die sogenannten versicherungsfremden Leistungen der GKV gegenzufinanzieren. Der liegt in diesem (und wohl auch im nächsten) Jahr bei 14,5 Milliarden Euro und ist in den vergangenen 20 Jahren stark geschwankt (zwischen 1 Milliarde € in 2004 und 28,5 Milliarden € im Pandemie-Jahr 2022). Dass er für die nahe Zukunft nicht ausreicht, dürfte allen Beteiligten klar sein. Und deshalb fürchten die Vorstände der Krankenkassen, was im kommenden Jahr auf sie zukommt: Defizitverwaltung auf ganz hohem Niveau. 

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat indes im STERN angekündigt, dass sich die Beiträge für die GKV und die Pflegeversicherung im kommenden Jahr erhöhen; jetzt sei „die Phase, in der wir Geld in die Hand nehmen müssen, auch das der Beitragszahler.“ Um wieviel sie tiefer in die Tasche greifen müssen, ist noch nicht raus; nun wartet alles auf den Schätzerkreis, der Mitte Oktober seinen Ausblick auf das kommende Jahr präsentiert.

Die Krankenkassen sind über das Interview empört. Ihr Spitzenverband rechnet damit, dass der Beitragssatz im kommenden Jahr um 0,6 Prozent steigen muss – hier seien die Zusatzkosten zum Stemmen der Krankenhausreform noch nicht einmal eingerechnet.

AOK: Der „teuerste Gesundheitsminister aller Zeiten“

AOK-Chefin Reimann spricht vom „teuersten Gesundheitsminister aller Zeiten“ und fordert, dass die finanziellen Versprechen aus dem Koalitionsvertrag der Ampelregierung umgesetzt werden. Dort hatte man die Dynamisierung des Bundeszuschusses auf dem Zettel, damit die GKV nicht für Kostensteigerungen geradestehen muss. Nötig seien tiefgreifende Strukturreformen. Reimann fordert außerdem einen niedrigeren Mehrwertsteuersatz auf Arzneimittel (7 statt 19 Prozent). Das wären zwar Mindereinnahmen für den Bund, aber es könnte die Beitragszahler um einen halben Beitragssatzpunkt entlasten. In vielen anderen Ländern ist das längst vollzogen – entweder durch reduzierte Mehrwertsteuersätze (z.B. Spanien, Frankreich oder Italien) oder durch den Verzicht auf die Steuer (wie in Schweden.)

AOK-Chefin Reimann. Foto: privat
AOK-Chefin Reimann. Foto: privat

Auch bei den Innungskrankenkassen herrscht Kopfschütteln. Auch hier: Kein Verständnis dafür, dass im Koalitionsvertrag angekündigten Maßnahmen  in dieser Legislatur absehbar nicht mehr umgesetzt werden“, erklärte Hans-Jürgen Müller, Vorstandsvorsitzender des IKK, der Interessenvertretung von Innungskrankenkassen auf Bundesebene. Und verweist darauf, dass das muntere Hineingreifen des Bundesgesundheitsministerium in den GKV-Topf für strukturelle Reformen weitergeht: Mit einem Transformationsfonds soll im Rahmen des Krankenhausversorgungs-Verbesserungsgesetzes (Wortmonster für Krankenhausreform) über den Zeitraum von 10 Jahren 50 Milliarden Euro von Bund und Ländern zum Umbau und zur Modernisierung der Krankenhauslandschaft eingesetzt werden. Der Bund will sich aber seinen Teil über den Gesundheitsfonds finanzieren lassen. Und so zahlen letztlich die gesetzlich Versicherten und deren Arbeitgeber aus Beitragsgeldern den Auf- und Umbau von gesundheitlicher Infrastruktur – eine „eindeutig gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ (O-Ton IKK). 

Fazit des IKK-Vorstandes: „Es ist dringend notwendig, dem verfassungsrechtlichen Grundsatz, dass Sozialversicherungsbeiträge das Binnensystem der Sozialversicherung nicht verlassen dürfen, Geltung zu verschaffen. Beitragsgelder sind kein Notgroschen für das Regierungsportemonnaie, sondern sie dienen zur Sicherstellung der Versorgung der Versicherten.“

IKK-Umfrage: Die Menschen sind skeptisch

Dass diese Budgetspielereien auch in der Bevölkerung nicht gut ankommen, zeigt eine Umfrage der IKK: Demnach sind zweidrittel der Befragten (67 Prozent) der Meinung, dass Krankenkassenbeiträge ausschließlich zweckgebunden für Leistungen der Krankenkassen an ihre Versicherten verwendet werden sollten. Und fast dreiviertel (74 Prozent), meinten, „dass den Kassen als Treuhänder der Beitragsgelder gegen die Zweckentfremdung dieser Gelder für gesamtgesellschaftliche Ausgaben ein Klagerecht eingeräumt werden sollte.“ Die Idee, einen Teil der Krankenhausreform über die GKV zu finanzieren, findet auch der Bundesrechnungshof als oberstes Organ der Finanzkontrolle merkwürdig; es bestünden „rechtliche Zweifel an der Zulässigkeit, die GKV zur Hälfte an der Finanzierung des Transformationsfonds zu beteiligen.“ Denn: „Von einer neuen Kliniklandschaft würden indes auch privat Versicherte und Mitglieder anderer Versorgungssysteme profitieren.“ Da muss das Gesundheitsministerium wohl noch mal ran.

Am besten wäre es natürlich, die GKV käme ohne Bundeszuschüsse aus, weil Dinge wie versicherungsfremde Leistungen oder Strukturreformen direkt aus den dafür zuständigen Ressorts bezahlt würden. Weil das offensichtlich nicht geht, wurde der Bundeszuschuss erfunden. Dieser müsste dann aber konsequenterweise kostendeckend sein, denn sonst werden die GKV-Beitragszahlenden zur Melkkuh des Sozialstaates. 

Hinzu kommt: Das Regieren über Bundeszuschüsse hat gleich mehrere Nachteile.

IKK-Umfrage: Die Menschen sind skeptisch
Reform der GKV muss dringend ganz oben auf die Berliner Polit-Agenda. Foto: ©iStock.com/ipopba
  • Die Zuschüsse „machen die GKV von der Haushaltssituation des Bundes und damit vom Finanzminister abhängig“, heißt es etwa beim Bundesverband der Privaten Krankenversicherung (PKV). Was das bedeutet, könnte noch in diesen Wochen live zu beobachten sein, wo eine Regierung immense Schwierigkeiten hat, sich auf einen gemeinsamen Bundeshaushalt zu einigen.
  • Die Zuschüsse schaffen „eine Finanzierungsillusion“ für ein System, das in Wirklichkeit dringender Reformen bedarf; Milliardenspritzen verstecken Budgetlöcher nur.
  • Der prekären Lage der GKV-Finanzen wird ohne Struktur-Reformen nur durch Beitragsanhebungen und Spargesetze beizukommen sein. Für den Arzneimittelsektor könnte das bedeuten, dass neuartige Therapien zunehmend nicht nach ihrem Nutzen für kranke Menschen, sondern nach Finanzlage der Krankenkassen erstattet werden. Ein marodes GKV-System konterkariert die Nationale Pharmastrategie des Bundes, mit dem die Ampel den Pharmastandort Deutschland wieder zurück in die Weltspitze führen will.

Die Debatte geht weiter über den Zustand unseres Gesundheitssystems hinaus, denn sie führt auch dazu, dass die GKV in der Öffentlichkeit als eine Art Finanzruine dasteht, die eigentlich kurz vor dem Kollabieren ist. Das ist weder richtig noch angemessen: Denn viele der diskutierten Probleme der GKV sind „politikgemacht“, könnten also abgestellt oder in ihrer Wirkung zumindest abgemildert werden. Eine beherzte, tiefgreifende Reform würde dabei helfen, dass „eine maßgebliche Säule des sozialen Friedens“ (O-Ton Dr. Georg Kippels, CDU) nicht ständig als marode an die Wand geredet würde, was nicht gerade dazu beiträgt, das Vertrauen der Menschen in die Institutionen dieses Landes zu stärken. 

Wie sich mangelndes Vertrauen in öffentliche Institutionen auf Wahlzetteln auswirkt, lernen wir gerade. Die Reform der GKV muss dringend ganz oben auf die Berliner Polit-Agenda. Und muss über das nonchalante Ankündigen neuer Beitragssteigerungen deutlich hinaus gehen.

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