2 Seiten einer Medaille: Noch nie war die Versorgung für Menschen mit seltenen Erkrankungen so gut, noch nie gab es so viele kausal wirkende Arzneimittelinnovationen. Und die andere Seite? „Noch immer warten Menschen mit einer seltenen Erkrankung bis zu 5 Jahre auf eine Diagnose“, so Professor Christian Dierks, der einen virtuellen Roundtable (hier geht es zur Aufzeichnung) der Initiative Change4rare moderierte. „Über 7.000 registrierte seltene Erkrankungen stehen lediglich knapp über 200 zugelassene Medikamente gegenüber.“ Unter dem Dach der vom forschenden Unternehmen Alexion Pharma gegründeten Initiative haben sich über 30 Expert:innen aus dem Kreis der Betroffenen, aus Medizin und Praxis, aus Versorgung, Forschung, Recht und Politik zusammengefunden. Ziel ist es, das Wissen um die Versorgung seltener Krankheiten zu bündeln und zugänglich machen. Es geht schlicht um mehr Gesundheit für Menschen mit seltenen Erkrankungen.
Punkt 1 ist genau genommen eine Selbstverständlichkeit; die Expert:innen setzen sich für eine bessere Repräsentanz von kleineren Patient:innengruppen in der Selbstverwaltung; sprich: im Gesundheitssystem, ein. Ein eigenes Stimmrecht in den zuständigen Gremien sollen sie in die Lage versetzen, besser gegen Benachteiligungen in Forschung und Versorgung agieren zu können. Für Christiane Mockenhaupt, Vorsitzende der Selbsthilfegruppe für seltene komplementvermittelte Erkrankungen, wäre dies zunächst einmal „eine Gleichstellung mit den anderen Interessenvertretern.“ Sie ist sich sicher: „Das würde auch das Vertrauen in die Politik erhöhen.“ Aus Sicht von Prof. Dr. Thomas O.F. Wagner, Leiter des Referenzzentrums für seltene Erkrankungen in Frankfurt, gibt es kaum einen Bereich, in dem die Repräsentanz kranker Menschen so unterentwickelt ist wie hier: „Man glaubt für die Patienten zu sprechen, ohne die Patienten zu Wort kommen zu lassen.“ Dabei habe man gerade bei der Planung von klinischen Studien gesehen, welchen Wert die Mitsprache der Betroffenen habe: „Plötzlich werden die Studien durchführbar und die Akzeptanz ist viel höher.“
Ohne Gesundheitsdaten kein medizinischer Fortschritt
In den Arbeitsplan einer kommenden Legislaturperiode gehört aus Sicht von Change4rare der Anspruch, die Datenqualität zu verbessern (Punkt 2). „Ohne Datennutzung haben wir keinen medizinischen Fortschritt“, stellt Professor Dr. Jürgen Schäfer vom Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen in Marburg fest. Er sieht dringenden Nachholbedarf: „Wir haben überhaupt keinen Überblick über die Patienten – entsprechend werden dann auch keine Studien durchgeführt.“ Damit Gesundheitsdaten gut genutzt werden können, müssen sie vollständig, vollzählig, valide, verknüpft und aktualisiert sein, sagt er. „Die Datennutzung wird bei uns erschwert durch Datenschutz, der an der Lebensrealität vorbei geht.“ Er setzt sich deshalb dafür ein, dass es neben Datenschutz- auch Datennutzungsbeauftragte geben muss.
Immer wieder ist es der Faktor Zeit, der Menschen mit Orphan Drugs das Leben schwer macht. Die Rekrutierung für klinische Studien dauert bei ihnen bis zu 40 Prozent länger als bei den häufigen Erkrankungen, so Professor Dierks. Die Expert:innen von Chance4rare haben deshalb als 3. Punkt ihrer Politik-Agenda „das Recht auf Gefunden-werden“ formuliert. Professor Christof von Kalle vom Berlin Institute of Health (BIH, Charité) bringt es auf den Punkt: „Es gibt nun mal die Tatsache, dass die seltenen Krankheiten selten sind. Das bedeutet: Patienten in ausreichender Zahl zu finden, die auf die Einschlusskriterien solcher Studien passen, ist zunächst mal ein Problem.“ So sind die Hoffnungen auf den European Health Data Space groß, weil er das Forschungsfeld vergrößert und es möglich macht, dass Menschen die Chancen haben, von den Fortschritten in ihrer Indikation zu erfahren.
„Unglaubliche Beschleunigung“: Die genetische Diagnostik ausbauen
Der wissenschaftlich-medizinische Fortschritt ist rasant – und Menschen mit seltenen Erkrankungen haben einen Anspruch auf die Teilhabe an diesem Fortschritt. Change4rare plädiert deshalb dafür, dass der Anspruch auf Genomsequenzierung erweitert wird – die genetische Diagnostik als Schlüssel zur Therapie ist Punkt 4 der politischen Forderungen. 2 von 3 seltenen Erkrankungen sind genetisch bedingt. Für den Mediziner Wagner wäre das schlicht wegweisend: Sowohl für die Diagnostik wie für die Therapien sieht er in der Entwicklung der modernen Molekularbiologie den Schlüssel. Momentan zwinge die Regulierung diesen Fortschritt in „ein Schrittchen für Schrittchen.“ Natürlich koste diese Diagnostik zunächst etwas. „Aber tatsächlich können wir damit unendlich viel Geld einsparen und überflüssige Diagnostik sowie unwirksame Therapien vermeiden.“ Das Wichtigste ist ihm das „unglaubliche Beschleunigungspotenzial für die Patienten, um die Wartezeit, bis endlich die richtige Diagnose da ist, abzukürzen.“
Um das Wissen über die Seltenen zu bündeln, setzt sich Chance4rare für ein über telemedizinische Netze verbundenes Netzwerk von Zentren ein. Das Motto, so Professor Dierks: „Move the information, not the patient.” Es ist die Forderung Nummer 5.
Ein seit Jahren heikles Thema ist die Bewertung des Nutzens von Orphan Drugs zur Behandlung seltener Erkrankungen. Der Grund: Die Zahl der Menschen ist per Definition klein und die klassischen Methoden wie groß angelegte Placebo-kontrollierte Studien scheitern an der Realität – oder an ethischen Herausforderungen. „Wir brauchen ein anderes Regelwerk“, sagt Dierks – eine adäquate Evidenzgenerierung und -bewertung (Punkt 6). Die Gefahr, die die Expert:innen sehen, ist, dass Therapien mit einer schlechten Nutzenbewertung versehen werden, weil die Methodik gar nicht in der Lage ist, den Fortschritt zu erkennen. „Wenn es nur wenige Patienten gibt“, so Mediziner Wagner, „muss das eben ausreichen und wir müssen ein laufendes Zulassungsverfahren etablieren, das mit bisschen Evidenz beginnt.“ Es wäre ein lernendes Verfahren – mit dem Vorteil, dass kranke Menschen, früher am Fortschritt teilhaben können. „Da müssen wir kreativer sein“, fordert Wagner.
Forderung Nummer 7 in Richtung Regierungsmannschaft in der kommenden Legislaturperiode: Faire, auch innovative Preisbildung für Orphan Drugs. Das Dilemma, so Christian Dierks: „Wir haben sehr kleine Patientengruppen, einen oft sehr hohen therapeutischen Wert und eine schwache Studienlage.“ Die Preisverhandlungen seien deshalb schwierig. In 75 Prozent der Fälle käme beim AMNOG-Verfahren ein „nicht-quantifizierbarer Zusatznutzen“ heraus – eben auch, weil die Methodik sich mit kleinen Patient:innengruppen schwertue. Und dann griffen weitere Regelungen, die einen am wirklichen Nutzen einer Therapie orientierten Preis sehr schwierig machten. Prof. Barbara Sickmüller, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Regulatory Affairs (DGRA), schilderte verschiedene Ideen, die zurzeit diskutiert würden, wie eine degressive Preisstaffelung (an der Zahl der behandelten Menschen orientiert). „Ein anderen Ansatz ist das so genannte value-based pricing; das heißt, die Kopplung des Preises an den tatsächlichen klinischen Nutzen bzw. den Mehrwert für Patienten.“ Die im GKV-Finanzstabilisierungsgesetz abgesenkte Umsatzschwelle, die Orphan Drugs in ein erneutes AMNOG-Verfahren zwingt, hält sie für „nicht zielführend.“
Der letzte Punkt, den die Expert:innen von Change4rare der Politik ins Pflichtenheft schreiben möchte, lautet: „Versorgungsunsicherheiten beseitigen.“ Hier geht es um Hürden im System, die die Versorgung kranker Menschen behindert. Geht es nach den Initiatoren, könnten die 8 Punkte dazu beitragen, dass Menschen mit seltenen Erkrankungen deutlich besser behandelt werden können. Deshalb gilt für die Gesundheitspolitiker:innen auf dem Weg in den 21. Bundestag: Bitte mitschreiben.
Weiterführender Link:
Change4rare: Agenda 2025
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Sollten die Organe, die in Deutschland für die Nutzenbewertung neuer Arzneimittel verantwortlich sind, mit Orphan Drugs methodisch genauso umgehen wie mit Medikamenten gegen häufigere Erkrankungen? Diese Forderung wird immer wieder laut. Doch wer sich die Faktenlage genau anschaut, muss feststellen: Das würde die Versorgung der Patient:innen mit seltenen Leiden verschlechtern. Schon heute droht die Gefahr, dass innovative Therapien nicht ans Krankenbett kommen – weil es dem sogenannten AMNOG-Verfahren nicht gelingt, ihren Zusatznutzen zu erkennen und zu honorieren. Die Folgen können lebensbedrohlich sein.
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