
„Allein in Deutschland leben vier Millionen Menschen mit einer der über 7.000 seltenen Erkrankungen und noch immer warten sie im Durchschnitt fast fünf Jahre auf die korrekte Diagnose. Und auch dann sieht es für die meisten von ihnen schlecht aus, denn für über 90 Prozent der Erkrankungen stehen keine geeigneten Therapien zur Verfügung“, betonen Antje Emmermann, Executive Director Market Access, Dominika Kowalski, Director Government Affairs & Policy, und Stephanie Ralle-Zentgraf, Director Communications, von Alexion. Im Vorwort der „Agenda 2025“ schreiben sie: „In unserer langjährigen Zusammenarbeit mit Expert:innen aus unterschiedlichen Bereichen haben wir bei change4RARE Personen vernetzt und Wissen miteinander geteilt.“ In ihren Augen können „Vorschläge für Initiativen, Maßnahmen und Veränderungen zur Verbesserung der Versorgung von Patient:innen mit seltenen Erkrankungen“ nicht in Silos erarbeitet werden.
Seit Ende 2020 gibt es daher die Initiative change4RARE – Expert:innen aus Patientenorganisationen, dem Versorgungsalltag, der Gesundheitspolitik, Selbstverwaltung, Forschung, Ethik und Recht kamen hier zusammen. Die nun erarbeitete „Agenda 2025“ enthält Forderungen über 4 Kernbotschaften hinweg:
1. Patientenpartizipation stärken
Großes Verbesserungspotenzial gibt es aus Sicht der Expert:innen in Bezug auf die sogenannte gemeinsame Entscheidungsfindung. „Shared Decision Making“ ist ein Konzept, um Patient:innen in die Behandlung einzubeziehen. In einem Pharma Fakten-Interview erklärte jüngst eine Krebspatientin, warum das so wichtig ist: „Das sind Entscheidungen, die haben Einfluss auf den Rest des Lebens. Ich muss dazu stehen können. […] Wer aktiv mitentschieden hat, kann auch mit einem weniger guten Ergebnis einer OP besser umgehen.“ Laut change4RARE bedarf es „erheblicher Investitionen in verbesserte Aufklärungs- und Informationsmöglichkeiten“ – das soll die Gesundheitskompetenz der Betroffenen stärken. „Dazu müssen Ärzt:innen intensiver in der Kommunikation geschult sowie die Bekanntheit und das Wissen um seltene Erkrankungen schon in der medizinischen Ausbildung gesteigert werden. Wir setzen uns zudem für eine Stärkung der Patientenvertretung im politischen Prozess ein und fordern die Einführung eines eigenen, demokratisch legitimierten Stimmrechts für Patientenvertreter:innen in der gemeinsamen Selbstverwaltung.“
2. Daten systematisch erheben und nutzen

Klar ist: Um die Potenziale der Digitalisierung zu heben, braucht es mehr Standardisierung, was die Datenerhebung und -nutzung angeht. Nur wenn alle Akteur:innen im Gesundheitswesen sich an gewisse technische Normen halten, können die verschiedenen Informationssysteme miteinander kommunizieren und Daten ohne größeren Aufwand austauschen. Unzureichende Standardisierung verhindert heute, dass medizinische Daten umfänglich genutzt werden – etwa zur Diagnose und Therapie von seltenen Erkrankungen. Dementsprechend ist, so change4RARE, die „europaweite Harmonisierung der Datenverarbeitung […] unerlässlich, um wichtige Daten über seltene Erkrankungen in größerem Umfang erheben und teilen zu können. Dazu gehört neben der Entwicklung des europäischen Gesundheitsdatenraums (EHDS) auch der Aufbau einer nachhaltigen Registerlandschaft für seltene Erkrankungen.“
Die Expert:innen plädieren unter anderem für einen „unbürokratischen Zugang zur sicheren und rechtlich konformen Datennutzung“, für einen „forschungsfreundlicheren Ansatz der Aufsichtsbehörden“ und für eine neue „Kultur der Ausschöpfung des Datenpotenzials für Versorgung und Forschung.“ Sie sagen: „Eine zu restriktive Auslegung datenschutzrechtlicher Möglichkeiten kann zu einer unzureichenden Nutzung von Datenbeständen führen. Angst vor einem verhindernden Datenschutz darf nicht auf Kosten der Versorgung gehen. Ein ermöglichender Datenschutz soll im Dienste der Patient:innen stehen. Legitime Datennutzung und notwendiger Datenschutz müssen austariert werden, damit alle Heilungschancen ergriffen werden können.“
3. In Infrastrukturen investieren

Spezialisierte Zentren für seltene Erkrankungen „müssen personell und technisch hinreichend ausgestattet werden“, lautet eine weitere Forderung. „Ebenso gilt es, die ambulante spezialfachärztliche Versorgung weiterzuentwickeln und telemedizinische Angebote zu fördern.“ Bestimmte Maßnahmen wie die telemedizinische Beratung in der Gendiagnostik sollten in die Regelversorgung, auf die alle gesetzlich Versicherten Anspruch haben, überführt werden. Auch setzt sich change4RARE für die „geregelte Einführung von Patienten-Lots:innen und Case Manager:innen“ ein. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung sind Patienten-Lots:innen vorgesehen – es gibt bereits einige Modellprojekte über verschiedene Krankheitsbilder hinweg; doch noch sind sie nicht Teil der Regelversorgung. Die Idee dahinter ist, dass ausgebildete Lots:innen die Betroffenen durch das komplexe Gesundheitswesen begleiten (s. Pharma Fakten), um ihnen Orientierung in Bezug auf Versorgungsmöglichkeiten und Unterstützungsangebote zu bieten.
„Schließlich betonen wir die Notwendigkeit, qualifiziertes Pflegepersonal für die Heimtherapie durch Aufwertung des Berufsbildes und Zusatzqualifikationen zu gewinnen“, heißt es in der „Agenda 2025“.
4. Marktzugang der Orphan Drugs sicherstellen
„Neue Wege zur Förderung und Finanzierung der Forschung, gerade am Anfang der Forschungskette, sollten entwickelt und etabliert werden, um das Potenzial in diesen frühen Phasen der Arzneimittelentwicklung besser nutzen zu können“, finden die Fachleute. Eine weitere Herausforderung bezieht sich auf die klinische Forschung: Der „Goldstandard“ – die randomisierte, placebokontrollierte Studie mit großer Teilnehmer:innen-Zahl – kommt bei schweren, lebensbedrohlichen, seltenen Erkrankungen oft an seine Grenzen. Notwendig sind „neue Studiendesigns für Orphan Drugs“, „die sowohl die geringen Patientenzahlen als auch die Anforderungen an eine ausreichende Evidenz berücksichtigen.“ Auch gilt es, die Rekrutierung von Proband:innen effektiver zu gestalten: So sollte den Patient:innen „regelhaft und ohne konkreten Anlass die Möglichkeit eingeräumt werden, ihre grundsätzliche Bereitschaft zur Teilnahme an Studien erklären“ zu können. Möglichst viele Betroffene sollten hierzu in Patientenregister aufgenommen werden.
Neben einer „Weiterentwicklung der Zulassungsverfahren“ für Arzneimittel gegen Erkrankungen mit „extrem kleinen Fallzahlen“ und „Regresssicherheit für ärztliche Verordnungen der Orphan Drugs“ sprechen sich die Fachleute u.a. für „innovative Ansätze zur Preisbildung von Orphan Drugs“ aus, „um deren Verfügbarkeit in Deutschland sicherzustellen.“
Agenda 2025: Ein Blick nach vorn

Wer die „Agenda 2025“ liest, dem wird schnell klar: Es gibt noch viel zu tun, um die Situation der Patient:innen zu verbessern. Die gute Nachricht ist: Lösungsmöglichkeiten liegen nun schwarz auf weiß vor. Wie geht es weiter? Die change4RARE-Initiative will in den Austausch mit Entscheidungsträger:innen in Politik und Selbstverwaltung gehen, „um die konkreten Handlungsfelder zu kommunizieren und Veränderungen herbeizuführen.“ Für die Verantwortlichen steht fest: „Nur gemeinsam können die zahlreichen Hürden überwunden werden, welche sich Menschen mit seltenen Krankheiten in den Weg stellen.“ Andrea Passalacqua, General Manager von Alexion Pharma Germany, unterstreicht: „Wir freuen uns auf die aktive Beteiligung an dieser wichtigen Diskussion – und begrüßen die Mitwirkung und Unterstützung aller, die sich mit Leidenschaft für die Menschen mit seltenen Erkrankungen einsetzen.“
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