Weshalb kam es zur Gründung des Vereins Zielgenau e. V.?
Bärbel Söhlke: Wir möchten dazu beitragen, dass Lungenkrebs-Patienten in Deutschland umfassend diagnostiziert und optimal behandelt werden – insbesondere setzen wir uns dafür ein, dass jeder geeignete Patient mit einer Lungenkrebsdiagnose Zugang zu molekularer Diagnostik und, wenn möglich, zu einer personalisierten Therapie erhält. Beides hat sich in den letzten Jahren grundlegend verbessert, kommt aber bei einem zu großen Teil der Patienten immer noch nicht ausreichend an. Deshalb haben 13 Lungenkrebs-Betroffene vor knapp 5 Jahren den Verein „Zielgenau e. V.“ gegründet – als Patienten-Netzwerk für personalisierte Lungenkrebs-Therapie. Wir sind bundesweit tätig, gemeinnützig und pharma-unabhängig. Alle sieben Vorständinnen sind selbst Lungenkrebs-Patientinnen unter zielgerichteten Therapien. Wir betreuen über 1.000 Patienten und Angehörige.

Wie machen Sie das genau?
Söhlke: Der Austausch mit und unter den Betroffenen erfolgt über soziale Medien, persönliche Begegnungen, telefonisch, per Email, mit Präsenz- und Online-Gruppentreffen – und auch einem jährlichen großen Patiententag, den wir gemeinsam mit dem Centrum für Integrierte Onkologie an der Uniklinik Köln organisieren, das von Prof. Wolf geleitet wird.
Zu dem Sie eine besondere Beziehung haben?
Söhlke: Das kann man so sagen. Wenn ich nach meiner Diagnose nicht Patientin bei ihm gewesen wäre, dann wäre ich seit 12 Jahren tot. Denn er hat meine Tumorzellen molekular testen lassen und mir ein Medikament zugänglich gemacht, das erst knapp 4 Jahre später für meine Indikation zugelassen wurde. Anfangs war es noch nicht auf dem europäischen Markt und wurde damals für mich aus der Schweiz importiert. Inzwischen nehme ich das Medikament seit zwölfeinhalb Jahren. Seitdem beobachte ich, wie immer mehr solche personalisierten Therapien möglich werden und sich langsam, nicht selten zu langsam, im deutschen Gesundheitssystem durchsetzen.
Aber ist es nicht nur eine kleine Randgruppe, die für eine personalisierte, auf die einzelnen Patient:innen zugeschnittene Therapie überhaupt in Frage kommt?
Söhlke: Keineswegs. Seit unserer Gründung hat sich der Anteil der zielgerichtet behandelbaren Lungenkrebspatienten verdoppelt. Auch für Erkrankte in frühen Stadien werden jetzt nach und nach zielgerichtete Therapien zugelassen. Das ist umso wichtiger, weil Lungenkrebs mit großem Abstand die häufigste Krebs-Todesursache ist. Es sterben etwa so viele Menschen daran wie an Darm-, Brust- und Prostatakrebs zusammen. Bei der großen Mehrheit wird fortgeschrittener Lungenkrebs festgestellt. Noch vor wenigen Jahren war Chemotherapie die wesentliche Therapie – mit relativ geringer Wirksamkeit. Inzwischen hat die personalisierte Onkologie die Prognose um Jahre verlängert.
Weshalb ist personalisierte Medizin gerade für Patient:innen mit Lungenkrebs so wichtig und welche Ergebnisse bringt sie?
Söhlke: Personalisierte Behandlungen sind auch bei einigen anderen Krebsarten längst Standard, aber beim nichtkleinzelligen Lungenkrebs wurde die Therapie in wenigen Jahren geradezu revolutioniert. Noch zum Zeitpunkt meiner eigenen Diagnose im Jahr 2008 starb mehr als die Hälfte der Patienten innerhalb eines Jahres. Doch dann wurden immer mehr so genannte Treibermutationen auf den Krebszellen entdeckt, die sich effektiv und zielgerichtet angreifen lassen. Wir kennen zum Beispiel einzelne Patienten mit einer so genannten EGFR-Mutation, die inzwischen auf mehr als 15 Jahre Überlebenszeit kommen bei fortgeschrittenem Lungenkrebs. Bei Patienten mit ALK- oder ROS1-Mutationen sind es zum Teil mehr als 10 Jahre. Das ist ein riesiger Erfolg der genomischen Medizin. Viele von uns können weiterarbeiten und haben die Krankheit jahrelang unter Kontrolle. Und wir müssen keine Chemotherapie mehr ertragen und sind auf deutlich weniger medizinische Unterstützung angewiesen.
Aber, um keine falschen Hoffnungen zu wecken – für wie viele Patient:innen kommt diese Art von Behandlung überhaupt in Frage?
Söhlke: Insgesamt erkranken in Deutschland rund 60.000 Menschen pro Jahr neu an Lungenkrebs. 85 Prozent davon haben einen nichtkleinzelligen Lungenkrebs, der grundsätzlich für diese Art von Behandlung in Frage kommt. Diese Menschen sollten bei fortgeschrittenem Lungenkrebs eine umfassende molekulargenetische Testung erhalten – bei gut der Hälfte findet sich eine so genannte Treibermutation, von denen die meisten zielgerichtet behandelbar sind.
Wie viele Lebensjahre bringt eine zielgerichtete Therapie?

Söhlke: Das ist sehr unterschiedlich. Viele unserer Mitglieder überleben seit Jahren und mit einer guten Lebensqualität. Ich selbst lebe seit zwölfeinhalb Jahren unter einem dieser Medikamente progressionsfrei – also ohne, dass der Krebs weiter fortgeschritten wäre. Das ist leider nicht der Normalfall. Das bisher längste mediane progressionsfreie Überleben unter einer zielgerichteten Erstlinientherapie wurde beim ALK-positiven nichtkleinzelligen Lungenkrebs in einer Langzeitstudie nachgewiesen: Auch nach 5 Jahren Beobachtungszeitraum hatte mehr als die Hälfte der Patienten noch keinen Progress. Und für Folgetherapien stehen weitere Medikamente zur Verfügung.
Wie lange haben Sie geraucht, bevor Sie erkrankt sind?
Söhlke: Ich habe nie geraucht – und das gilt für erstaunlich viele Patienten mit einer so genannten Treibermutation. Man hat häufig den 70jährigen, jahrzehntelang starken Raucher im Hinterkopf. Aber viele Menschen, die sich an uns wenden, sind deutlich jünger. Wir schätzen das Durchschnittsalter eher auf 55 – der Jüngste, dem ich persönlich begegnet bin, war ein 18-jähriger Abiturient. Wir sehen bei Zielgenau: Die Gruppe der jüngeren, überwiegend weiblichen, zielgerichtet behandelbaren Betroffenen wächst Jahr für Jahr.
Woran liegt das?
Söhlke: Vermutlich ist die Feinstaubbelastung in der Luft eine zunehmend häufige Ursache für Lungenkrebs. Gerade bei der EGFR-Mutation gibt es erste Studien, die darauf hinweisen. Auch das radioaktive Edelgas Radon, das im Boden vorkommt, hat einen Effekt. Es gibt da einige Faktoren, aber wirklich untersucht ist das nicht. Es gibt kaum Studienergebnisse dazu, warum es seit etlichen Jahren – man beobachtet das seit 2008 – gerade bei unter 40-jährigen Nichtrauchern steigende Zahlen gibt.
Welche Ziele verfolgen Sie bei Zielgenau?

Söhlke: Es sind vier große Ziele: Gesundheitskompetenz steigern, umfassende Diagnostik ermöglichen, personalisierte Therapien fördern und patientenzentrierte Forschung stärken. Gesundheitskompetenz lässt sich durch Information verbessern. Gut informierte Patienten können viel selber dazu beitragen, dass diagnostische Fortschritte und effektive Therapien auch tatsächlich bei ihnen ankommen. Deshalb vernetzen wir Patienten für einen Wissens- und Erfahrungsaustausch untereinander in mutationsspezifischen Gruppen. Wir verbessern Patientenwissen auch durch persönliche Beratung, in Gruppentreffen oder mit Webinaren. Umfassende Diagnostik wollen wir durch unsere Zusammenarbeit mit dem nNGM fördern, dem nationalen Netzwerk genomische Medizin Lungenkrebs. Über dieses Netzwerk erhalten Patienten Zugang zu molekularer Diagnostik und den bestmöglichen Therapien. Das nNGM erreicht inzwischen mehr als zwei Drittel der Lungenkrebspatienten, die eine molekulare Diagnostik brauchen – aber ein Drittel fehlt eben noch. Im nNGM arbeiten 29 forschungsnahe Zentren mit über 500 Krankenhäusern und Praxen zusammen – dort liegen Diagnostik und Therapieempfehlung in den Händen von Top-Spezialisten. Die eigentliche Behandlung findet dann wohnortnah statt.
Und wie fördern Sie personalisierte Therapien und patientenzentrierte Forschung?
Söhlke: Durch unsere Netzwerk-Arbeit, durch unsere Kooperation mit dem nNGM oder gelegentlich auch dadurch, dass wir Ärzten bei der Studienrekrutierung helfen, vor allem bei seltenen Subgruppen – um nur die wichtigsten Punkte zu nennen. Patientenorganisationen können zudem innerhalb ihrer Netzwerke dazu aufrufen, Daten für eine zentrale Datenbank oder mutationsspezifische Register zur Verfügung zu stellen oder Tumormaterial für die Forschung zu spenden – und wir können direkte Patientenerfahrungen einbringen. Das ist unsere Rolle in der Forschung.
Wie gut kommt der medizinische Fortschritt bei den Lungenkrebspatient:innen an und wo hakt es noch?

Söhlke: Es besteht auch heute noch eine große Lücke zwischen dem Potenzial für zielgerichtete Therapie und der tatsächlichen Anwendung. Die molekularen Testraten sind immer noch nicht akzeptabel und führen jedes Jahr zu einem vermeidbaren Verlust tausender Patienten-Lebensjahre. Viele Patienten werden immer noch gar nicht oder unvollständig getestet. Die Testraten steigen zwar, aber zu langsam. Und nicht alle Getesteten erhalten die richtige Therapie. Viele Therapie-Optionen hängen ja von genomischen oder Biomarker-Analysen ab, deren Ergebnisse nicht immer einfach zu interpretieren sind. Vor allem Rezidiv-Situationen sind oft komplex und erfordern interdisziplinäre Expertise, die überwiegend an großen Unikliniken vorhanden ist. Aber ein Großteil der Patienten wird in normalen Krankenhäusern oder in Praxen behandelt. Und viel zu oft wird eine Chemo-Immuntherapie gestartet, bevor das Testergebnis überhaupt vorliegt.
Was wünschen Sie sich von der Gesundheitspolitik, um die Situation zu verbessern?
Söhlke: Die Versorgung sollte auf qualitätssichernde, möglichst digital vernetzte Strukturen konzentriert werden. Eine AOK-Studie hat nachgewiesen, dass eine Konzentration der Lungenkrebs-Versorgung auf das nNGM die Qualität der Versorgung in Deutschland steigern würde. Allein schon die Teilnahme am nNGM schafft einen Überlebensvorteil für Patienten – durch die Kooperation der beteiligten Experten und die qualitätssichernden Strukturen. Wichtig ist auch die Erfassung der Ergebnisse in einer zentralen Datenbank – auch das müsste die Politik sicherstellen. Und: Wir wünschen uns von der Gesundheitspolitik, dass sie die nNGM-Strukturen in die Regelversorgung überführt. Das wäre der wirksamste Hebel für eine bessere Lungenkrebs-Versorgung in Deutschland.
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