Wenn über Gesundheitsdaten gesprochen wird, ist meist Datenschutz gemeint. Das, was mit der Nutzung dieser Daten zum Schutz kranker Menschen erreicht werden kann, fällt hinten runter. Das hat eine schlechtere Medizin zur Folge.
Wenn über Gesundheitsdaten gesprochen wird, ist meist Datenschutz gemeint. Das, was mit der Nutzung dieser Daten zum Schutz kranker Menschen erreicht werden kann, fällt hinten runter. Das hat eine schlechtere Medizin zur Folge.

Digitalisierung der Medizin heißt Patient:innen schützen

Wenn über Gesundheitsdaten gesprochen wird, ist in der Regel Datenschutz gemeint. Das, was mit der Nutzung dieser Daten zum Schutz kranker Menschen erreicht werden kann, fällt in der Regel hinten runter. Der Onkologe Professor Dr. Christof von Kalle nennt das einen „asymmetrischen Datenschutz“. Er sagt im Pharma Fakten-Interview: „Ich glaube nicht, dass wir die Patienten ausreichend darüber aufklären, was ihnen vorenthalten wird.“

Professor von Kalle, was meinen Sie mit dem Begriff „asymmetrischer Datenschutz?

Professor Dr. Christof von Kalle. Foto: BIH/Stefan Zeitz
Professor Dr. Christof von Kalle. Foto: BIH/Stefan Zeitz

Christof von Kalle: Wenn wir über Datenschutz sprechen, leben wir in zwei Welten: Da ist die rechtliche Seite, wie sie EU-weit in der Datenschutzgrundverordnung einheitlich geregelt ist, und wir haben einen „gelebten Datenschutz“. Der ist bei uns geprägt durch rückständige Technik. Wir arbeiten immer noch mit dem Sicherheitskonzept der 1990er-Jahre, das die Datensparsamkeit – und damit de facto das Nichtprozessieren von Daten – zur Ideologie erhoben hat. Das ist eine Art Parallelwelt, die dazu führt, dass Länder wie Dänemark oder Spanien ganz anders mit Daten umgehen, als wir, obwohl sie mit derselben Rechtsgrundlage arbeiten. Das heißt nicht, dass sie bei der Sicherheit von Daten laxer sind. Im Grunde stellen wir die Dinge auf den Kopf: Vor lauter Datenschutz schützen wir die Daten vor den Patienten, wo wir mit Datennutzung doch eigentlich die erkrankten Menschen schützen wollen.

Aber die Menschen haben halt große Sorge davor, dass sie ihre Daten im Internet wiederfinden, wo sie jeder lesen kann…

Von Kalle: Und die müssen wir sehr, sehr ernst nehmen. Aber paradoxerweise wird die Sicherheit ja aber nicht durch verweigerte, schlechte oder veraltete Datenverarbeitung erzielt. Sicherheit erzielen wir vielmehr mit moderner Datenverarbeitung auf dem Stand der Technik. Fast alle Datenzwischenfälle im Gesundheitssystem waren bisher Ransomware -Attacken auf veraltete oder schlecht gewartete Systeme. Andererseits ist die Versorgungsmedizin bis hin zu der Abrechnung bei den Krankenkassen schon seit Jahr und Tag digitalisiert – und das stört auch niemanden. Man kann nämlich weder ein Kernspintomogramm noch ein Ultraschall noch einen modernen Laborbefund mit Bleistift und Papier erstellen. Ich will sagen: Datennutzung ist hinsichtlich der Datensicherheit nicht unsicherer als die von uns praktizierte Datenverweigerung. Ich glaube vielmehr, dass wir in Deutschland in einer Sicherheitsillusion leben.

Was meinen Sie damit?

Von Kalle: Diese restriktive Auslegung des Rechts behindert Forschung und Innovation, es verhindert, dass die Menschen auf ihre Daten zurückgreifen können, was aber die Grundlage dafür ist, dass sie mit ihren Ärztinnen oder Ärzten bei der Therapie mitreden können. Ich kann Ihnen aus meinem Alltag als Krebsforscher und -arzt sagen: Die Nutzung von Gesundheitsdaten versetzt uns in die Lage, bessere Entscheidungen zu treffen. Sie versetzt uns in die Lage, die Medizin der Zukunft zu gestalten, weil wir viel daraus lernen können, wie wir eine Tumorerkrankung noch besser vermeiden oder behandeln können. An Datenverlust ist noch niemand gestorben – an der Erkrankung selbst aber schon. Das meine ich mit Sicherheitsillusion: Vielleicht sind die Daten sicherer. Die Patienten, die Patientinnen sind es nicht.

Also ist Datennutzung ein Instrument zum Schutz von Patient:innen?

Datenschutz in der Medizin
Datennutzung: Patient:innen schützen. Foto: ©iStock.com/LeoWolfert

Von Kalle: Auf jeden Fall. Jeder Mensch ist anders – und damit ist es auch seine Krankheit. Die Daten können das an den Tag bringen; damit können wir viel patientenindividueller behandeln. Das ist einer der Gründe, warum wir bei der Krebsbekämpfung so viel besser geworden sind. Aber die Grundlage dieser Medizin sind Daten. Das ist das Merkwürdige an der Diskussion. Viele Menschen haben Angst vor einer Datenkrake und dem Missbrauch ihrer Gesundheitsinformationen. Aber das hindert uns daran, bessere Medizin zu machen. Die digitalisierte Medizin in die bessere Medizin. Ich glaube nicht, dass wir den Menschen das richtig erklären.

Was fordern Sie?

Von Kalle: Ich möchte, dass der Einsatz von Daten genauso ernst genommen wird, wie das, was im Grunde eine Datenverweigerung ist. Noch mal: Die Menschen gehen mit der Nichtverarbeitung von Gesundheitsdaten erhebliche gesundheitliche Risiken ein. Die Versorgungsqualität ist zwangsläufig schlechter, wir verlangsamen aktiv medizinischen Fortschritt. Ich glaube nicht, dass allen klar ist, dass wir kranken Menschen de facto eine Therapieoption vorenthalten bzw. verhindern, dass ihre Krankheit früh entdeckt wird. Sie aber haben ein Recht auf Gefundenwerden.

Das müssen Sie erklären.

Von Kalle: Gefundenwerden ist zum Beispiel für Patienten relevant, die in früheren Stadien ihrer Krankheit sind. Bei einigen Erkrankungen, etwa beim metastasierten Lungenkrebs, ist zurzeit eine Studie die erste Linie der Therapie für fast alle Patienten. Auch Menschen mit familiärer Tumordisposition – wir sprechen hier von zehn und fünfzehn Prozent aller Krebserkrankungen, und wahrscheinlich etwa 10 Prozent der Bevölkerung – sollten gefunden werden, und zwar möglichst noch, bevor sie tatsächlich eine Krebserkrankung haben. Und schließlich muss das Recht auf Gefundenwerden auch für Menschen gelten, die eigentlich austherapiert sind; sprich: die auf keine der zugelassenen Behandlungen mehr ansprechen. Für sie gibt es theoretisch eine Therapieoption durch eine klinische Studie. Weil wir Gesundheitsdaten aber anonymisieren, statt sie zu pseudoanonymisieren, können wir sie gar nicht finden, wenn wir sie für eine bestimmte Studie suchen.

Was ist der Unterschied?

Patientenzentrierte und digitale Patientenversorgung
Daten und das Recht auf Gefundenwerden. Foto: ©iStock.com/Pornpak Khunatorn

Von Kalle: Die Anonymisierung entfernt alle Verknüpfungen zu einer Person; eine Rückverfolgbarkeit ist unmöglich. Bei der Pseudoanonymisierung ersetzen wir Identifikatoren durch Pseudonyme, sodass die Identität theoretisch wiederhergestellt werden kann, wenn man Zugang zu den zusätzlichen Informationen hat. Das ist so ein Beispiel dafür, dass Daten Leben retten können. Die aktuelle Form von Datenschutz in Deutschland führt zu einer „Chancenlosigkeit“ auf eine personalisierte Therapie oder die Teilnahme an einer klinischen Studie als vielleicht letzte Option, weil man im System schlicht nicht gefunden wird.

Was müssten die nächsten Schritte sein?

Von Kalle: Die nächste Regierung sollte sich dem annehmen: Wir müssen den Datenschutz neu denken. Wir müssen das Recht der Menschen auf Nutzung ihrer Gesundheitsdaten stärken und wir brauchen ein verbrieftes Recht auf Gefundenwerden. Dazu gehört natürlich auch das Recht jedes Einzelnen, dies zu verweigern. Momentan leben wir vor allem einseitig das Recht auf Datenschutz – das ist im Grunde ein Daten-Nichtnutz. Und das verhindert eine bessere Medizin.

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