In der kommenden Woche (6. und 7. November 2024) findet unter der Schirmherrschaft des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit die „Vision Zero Herbsttagung“ statt. Vor 5 Jahren wurde die Initiative gegründet, um dem „Krebs die Rote Karte zeigen zu können.“ Im Pharma Fakten-Interview spricht Professor von Kalle über das Erreichte, über die Prävention, die Digitalisierung und über Geld.
Warum Vision Zero? Warum diese Idee?

Professor Dr. Christof von Kalle: Wir haben uns in anderen Lebensbereichen wie der Arbeits-, Flug- oder Verkehrssicherheit umgesehen und festgestellt, dass wir dort vermeidbare Todesfälle gesellschaftlich für komplett intolerabel erachten. Erfindungen wie Gurt, Airbag oder bessere Straßenführung sind Präventionsmaßnahmen, um aktiv Unfälle zu vermeiden oder ihre Folgen zu mindern – und wir halten Prävention in diesen Bereichen zurecht für sehr wirksam. Das ist in der Medizin nicht so; etwas überspitzt könnte man sagen, dass wir oft erst intervenieren, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Oder anders: In der Frage unserer Gesundheit fahren wir ohne Gurt, ohne Helm, ohne Knautschzone. Deshalb haben wir uns gedacht, dass wir dieses Prinzip auf die Medizin übertragen wollen: Jeder Tod durch Krankheit, der hätte verhindert werden können, ist einer zu viel – das ist das, was uns bei Vision Zero leitet. Der Weg muss sein, dass wir von einem Reparaturbetrieb hin zu einem ganzheitlichen Gesundheitsprozess mit ausgeprägter Prävention kommen. Dabei spielen Gesundheitsdaten eine wichtige Rolle – und die Rechte der Patientinnen und Patienten auf Datennutzung und den Einsatz dieser Daten im Dienste einer besseren Medizin und ihrer Gesundheit.
Was hat Vision Zero in den vergangenen 5 Jahren erreicht?
von Kalle: Unser Ziel war es, eine Art Think Tank für die Entscheidungsträger zu sein. Es ist uns gelungen, das Konzept der Vision Zero bekannt zu machen und in der Politik nachhaltig zu verankern. Vor diesem Hintergrund lässt vor allem eine Zahl aufhorchen: Wir könnten fast die Hälfte der Krebstoten vermeiden, wenn wir die Potenziale von intelligenten Präventionsmaßnahmen und gut geplanter Früherkennung konsequent nutzen würden. Prävention ist im Grunde wichtiger als die Therapie. Ein anderer Punkt ist sicher unsere Berliner Erklärung zur Digitalisierung in der Medizin. Wir haben mit der digitalen Technologie und ihrer Möglichkeit der Personalisierung den Schlüssel zu einer sehr menschlichen Medizin in der Hand. Daten, das ist unsere feste Überzeugung, sind die Freunde des Patienten. Wir setzen damit bewusst auf die Umdeutung weg vom Datenschutzhorror und hin zur konstruktiven Datennutzung als das Recht der Menschen, durch Daten zu einer besseren Medizin zu kommen. Daten retten Leben. Das ist nicht nur ein schöner Spruch: Wir erleben es in der Medizin jeden Tag.
Die Bundesregierung hat mit den entsprechenden Gesetzen die Grundlagen geschaffen, dass Deutschland in der Digitalisierung der Medizin seine Aufholjagd starten kann. Sind Sie damit zufrieden?
von Kalle: Natürlich ist es super, dass wir jetzt die Digitalgesetze haben, die uns endlich die elektronische Patientenakte (ePA) bringen und andere wichtige Dinge, die es für eine bessere Datennutzung braucht. Die Gefahr, die ich sehe, ist: Da werden Gesetze erlassen und keiner stört sich dran. Was ich sagen will: Wir müssen es nun umsetzen. Und vielleicht auch mal entgegen unseren sonstigen Ansprüchen mit einer weniger als perfekten Lösung einfach mal anfangen. Das sehen wir bei der ePA-Diskussion. Natürlich ist die nicht perfekt und natürlich werden sie nicht alle nutzen. Aber es ist ein wichtiger Anfang. Der Minister aber kann das Handeln nicht per Gesetz dekretieren. Schließlich heißt das Organisationsmodell im deutschen Gesundheitswesen Selbstverwaltung – im Sinne von: sich selbst managen. Also müssen wir ins Tun kommen, auch wenn das am Anfang schwierig ist.
Und? Wie optimistisch sind Sie?

von Kalle: Naja, wir haben schon noch einige Hürden. Eine davon ist das Geld, weil es natürlich Geld braucht, um zum Beispiel eine digitale Infrastruktur zu bauen. Eine andere ist der Arbeitsdruck. Bevor wir von einer ePA profitieren, müssen natürlich Befunde, Medikationspläne oder Impfungen angeschlossen oder schlimmstenfalls sogar händisch eingetragen werden – und dies darf man bei der erheblichen Arbeitsbelastung, die beispielsweise in der ambulanten Versorgung herrscht, nicht unterschätzen. Die Wahrheit ist: Vieles auf dem Weg zur digitalen Medizin bedeutet zunächst Mehrarbeit und Investition, bevor sich Effizienzsteigerungen zeigen. Aber es hilft alles nichts – da müssen wir hin. Warum? Weil wir mit den Instrumenten, die wir heute schon gegen Krebs oder andere Krankheiten einsetzen können, viel besser sein könnten.
Wie wollen Sie diese Widerstände überwinden?
von Kalle: Ich persönlich glaube, dass wir irgendwann dahin kommen müssen, dass es Umsetzungsfristen mit konkreten Sanktionen gibt. So haben das die US-Amerikaner gemacht. Ab einer gewissen Frist gab es für nicht datenunterstützte Medizin kein Geld mehr. Was mich optimistisch stimmt: Die Diskussion in der Öffentlichkeit hat sich gedreht. Dass Befunde nicht vorliegen oder Röntgenergebnisse auf CD Rom vom Patienten erlaufen werden müssen, ist nicht mehr mit der digitalen Wirklichkeit der meisten Menschen in Einklang zu bringen. In allen anderen Lebensbereichen geht das viel besser – so viel hat sich inzwischen herumgesprochen.
Kommen wir noch einmal zum Thema Geld. Wer soll das alles bezahlen?
von Kalle: Gute Frage. Wenn man sich das Budget des Bundesgesundheitsministeriums anschaut, dann stehen da im Entwurf für das kommende Jahr etwas mehr als 16 Milliarden Euro. Das klingt erstmal viel – zumindest für den, der nicht weiß, dass 14,5 Milliarden Euro davon der Bundeszuschuss für die GKV sind. Mit dem Rest muss der Minister sein Ministerium und alle Bundesgesundheitsbehörden und sein neues Präventionsinstitut finanzieren, und außer ein wenig symbolisches Geld für einzelne akute Projekte wie Forschung für Long Covid ist nichts anderes berücksichtigt. Investitionssummen zum Beispiel für eine Digitalisierung und das, was jetzt per Gesetz so alles beschlossen wurde, sucht man vergeblich. Selbst für das Prestigeprojekt Krankenhausreform – die übrigens dringend kommen muss – ist kein Geld in den Haushalt gestellt. Übrigens auch in den Ländern nicht. Ich unterstelle dem Minister nicht, dass er nicht dafür gekämpft hat. Aber der große Plan, das deutsche Gesundheitswesen auf modern und effizient zu trimmen, findet sich im Haushaltsentwurf für 2025 nicht wieder. Auch das machen wir nur im Gesundheitssystem so. Bei allen anderen lebenswichtigen Infrastrukturen gehen wir anders vor.
So ist das auch im Bereich Prävention, oder?

von Kalle: Wir haben bei der Prävention das Problem, dass wir uns keine konkreten Ziele setzen und wo wir sie haben könnten, nicht nachhalten. Und so bleibt die Prävention ein schönes Thema für Festtagsreden. Dabei haben wir eigentlich gute, sehr wirksame Regulationsmechanismen. Warum nicht Sonderentgelte für den verhinderten Kolonkrebs, also: eine Kopfprämie für Adenome? Über solche Instrumente sollten wir nachdenken. Überhaupt geben wir für Krankheitsvermeidung schlicht zu wenig aus. Das Geld, das ein Kinderarzt für eine Impfung bekommt? Dafür bekommen Sie in der Autowerkstatt nicht mal den Wischer gewechselt.
Bei Google ist ein oft getippter Suchtext: Wann ist Krebs heilbar? Also: Wann ist Krebs heilbar?
von Kalle: Die klare Antwort: Krebs ist meist heilbar, wenn man ihn früh genug erkennt, am besten, bevor er angefangen hat. Aber auch bei Menschen mit Krebs gibt es schon heute an vielen Stellen und in Zukunft noch viel mehr therapeutischen Fortschritt, der Krebs manchmal heilen oder oft zu einer chronischen Erkrankung machen kann.
Ob Krebs heilbar ist oder nicht, ist also oft auch eine Frage der Eigenverantwortung, oder?
von Kalle: Ja, wir müssen das Thema Eigenverantwortung stärker diskutieren und die Menschen ermutigen, ihr Schicksal selbst zu wenden. Abzuwarten, weiter zu rauchen und erst zum Arzt zu gehen, wenn es wehtut oder blutet, entspricht ja dieser Vollkasko-Reparaturmentalität, die wir ändern wollen und müssen.
Weiterführender Link:
Vision Zero gegen Krebs
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