Es war eine Lufthansa. Die letzte Maschine hob am 16. Mai 1992 ab und beendete die Geschichte von München-Riem als Flughafen. Heute gehört der immer noch stehende Tower zu Brainlab – ein deutscher, ein globaler Stern am Himmel der Medizintechnologie. Das Unternehmen hat die Medizin- und Chirurgiebranche durch die Entwicklung präziser Navigationssysteme und Bildgebungstechnologien revolutioniert. Kann es sein – die Frage stellt sich auf dem Gelände von Brainlab automatisch – dass ein entscheidender Standortnachteil der deutschen Wirtschaft die Wut ist, mit der wir sie an die Wand kriseln?
Wie auch immer – die Macher von Vision Zero in der Onkologie (VZ) werden sich gedacht haben: Was kann ein besserer Ort sein, um die Herbstarbeitstagung der Initiative abzuhalten, als dort, wo einem Innovation aus jeder Ecke anspringt? Schließlich ist es das Ziel von VZ, jeden Stein in Deutschland umzudrehen, der eine Hürde darstellen könnte auf dem Weg, die Zahl der vermeidbaren Krebsfälle und -toten gegen Null zu bringen. Das Motto der Tagung steuerte Johann Wolfgang von Goethe bei: „Der Worte sind genug gewechselt, nun lasst auch endlich Taten sehen.“
Digitalisierung ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Digitalisierung
Das Gute ist: Viele der Instrumente, um diese Nuller-Vision zu erreichen, sind längst identifiziert. Das vielleicht wichtigste Projekt von VZ ist dabei die Digitalisierung in der Medizin. Schon mit der Berliner Erklärung hat die Initiative damit begonnen, das Thema Datenschutz in der Medizin umzudeuten. „Datenschutz ist Patientenschutz“, sagt Professor Dr. Christof von Kalle, Leiter des Wissenschaftlichen Beirates von VZ (hier im Pharma Fakten-Interview). „Allerdings haben wir eine vorauseilende Übererfüllung, eine rückständige Technik und glauben, dass das Nicht-Prozessieren von Daten eine Schutzfunktion hat. Dadurch behindern wir den Zugang von Daten für die behandelnden Ärzte und für Forschung und Entwicklung, wir behindern auch den Zugang der Patienten zu ihren eigenen Daten – dabei können sie tatsächlich Leben retten.“ Wer der Nutzung seiner Daten nicht zustimme, behindere Forschung und Entwicklung: „Ich glaube nicht, dass wir unsere Patienten darüber aufklären, dass das so ist.“ Der Wissenschaftler sieht hier einen asymmetrischen Datenschutz. „Die Risiken einer Nicht-Verarbeitung von Daten sind erheblich. Wir sprechen von einer verringerten Versorgungsqualität.“ Patient:innen würden von der Teilhabe und ihrem „Recht auf Gefunden werden“ ausgeschlossen. Der gesundheitspolitische Sprecher der CSU im bayerischen Landtag, Bernhard Seidenath, sekundierte: „Der Tumor hat kein Recht auf informationelle Selbstbestimmung.“ Die Berliner Erklärung wird nun überarbeitet und aktualisiert – mit dem Ziel in Deutschland einen Paradigmenwechsel hinzubekommen.
Digitalisierung: Es braucht Mut
Einen Blick über die Grenzen zeigte der Vize-Gesundheitsminister von Litauen, Olegas Niakšu, auf. Das Land hat bereits vor zehn Jahren eine elektronische Patientenakte, das E-Rezept und Portale für ärztliche Praxen, Apotheken und Patient:innen eingerichtet. Für ihn ist klar: Dadurch ist „smarter healthcare“ möglich. Die Herausforderungen sind erheblich: Eine alternde Gesellschaft, der Fachkräftemangel, wissenschaftlicher Fortschritt, steigende Erwartungen der Gesellschaft an die Gesundheitssysteme – all das ist ohne die Hilfe digitaler Tools kaum zu leisten. Deutschland empfiehlt er: „Mut.“ Digitalisierung sei wie Schwimmen in sehr kaltem Wasser. „Aber wenn sie nicht springen, sind Sie halt nicht drin, oder? Und wenn Sie im Wasser sind, können Sie nicht sagen, dass Sie nicht schwimmen können. Dann müssen sie es machen.“ Deutschland hat mit der digitalen Aufholjagd begonnen – und vielleicht ist der Staat Bayern hier einen klugen Weg gegangen, in dem er seine ehemalige Digital-Ministerin zur Staatsministerin für Gesundheit machte. Für Judith Gerlach ist die Digitalisierung „der Generalschlüssel der innovativen Medizin. Mithilfe von Big Data und Künstlicher Intelligenz können wir große Mengen an Daten analysieren und wertvolle Erkenntnisse für die optimale Behandlung, aber vor allem auch für die Prävention gewinnen.“ So werde eine personalisierte Versorgung möglich. Und damit eine bessere Medizin.
Krebspatient:innen: Warum die Forschung weitergehen muss
Wer wissen will, warum Krebsforschung mit Energie weitergetrieben werden muss, sollte mit Bastian Schwarz sprechen. Bei dem 33-Jährigen wurde ein sehr seltenes Sarkom diagnostiziert. „Sarkome machen ein Prozent aller Krebserkrankungen aus, mein Sarkom macht ein Prozent aller Sarkome aus. Das ist ungefähr gar nichts.“ Die Chance, an ihm zu erkranken, liegt bei 1 zu 15 Millionen. So groß ist auch die Chance auf einen Sechser im Lotto ohne Superzahl, so Schwarz. Er sieht gesund aus. „Dass ich nachts nur drei Stunden schlafe, dass ich schwere Bauchschmerzen habe, sieht man mir nicht an.“ Die Krankheit, die Ungewissheit sind ständige Begleiter: „In zwei Wochen steht meine große Kontrolle an. Ich habe Angst. Ist der Krebs wieder zurück? Dass ich heute hier stehe, ist ein Wunder.“ Seine Leidenschaft, Fußball, musste er aufgeben. Er meint: „Seltene Erkrankungen brauchen dringend mehr Forschung. Er selbst engagiert sich dafür, dass Gewebeproben gesammelt werden, damit sie Eingang finden in Forschung und Entwicklung von seltenen Sarkomen.
Ein neues Projekt von VZ ist die Ideenwerkstatt: Hier geht es darum, konkrete Ideen vorzustellen, die die Versorgung Krebskranker konkret verbessern sollen. Das sind Projekte wie PRO/TE/IN, das die Uni Chemnitz zusammen mit dem forschenden Pharmaunternehmen GSK aufgesetzt hat. Der Hintergrund: Das medizinische Wissen verdoppelt sich ungefähr alle 73 Tage. „Der unmittelbare Transfer von Arzneimittelinnovationen in die Alltagsroutine ist ein relevanter ungedeckter medizinischer Bedarf und wird sich mit der Personalisierung der Therapien eher noch erhöhen“, sagt Dr. Werner Wischet von GSK. PRO/TE/IN ist eine Anwendung, die die ärztlichen Teams dabei unterstützen soll, die Arbeitsabläufe zu verbessern. Dahinter steht die Erkenntnis, dass Wissensmanagement ein zentrales Element ist, um gute Therapieentscheidungen treffen zu können.
Ein weiteres Projekt stellte Dr. Leonie Uhl von Amgen vor: Bei „Let´s be Leaders“ geht es um „Empowerment“ von Onkologinnen. Es ist ein Trainingsprogramm. Der Hintergrund hier: 64 Prozent der neu an der Uni eingeschriebenen Student:innen sind weiblich. In der Onkologie sind aber nur 26 Prozent von ihnen in Führungspositionen. Dafür will die Initiative sensibilisieren und fordert neben der Einführung erweiterter Betreuungszeiten in Schulen und Kitas, die Schaffung von familienfreundlichen Arbeitszeiten gerade in Kliniken.
Krebs: Mehr Mutausbrüche
Deutschland hat – das zeigte diese Tagung – alles, um Menschen mit Krebs möglichst gut zu versorgen. Aber es gibt Hürden, die das System bremsen und vor allem die Menschen bremsen, die ihre Patient:innen möglichst gut versorgen wollen. Diese zu lösen – dazu ist VZ angetreten. Um sie einzureißen, forderte Gründungsmitglied Professor Dr. Hagen Pfundner mehr „Mutausbrüche“. Denn es gilt die ganz einfache, wenn auch brutale Wahrheit: So lange aus strukturellen Gründen die Krebsbehandlung schlechter ist, als sie sein könnte, werden Menschen unnötigerweise erkranken und sterben. Oder um es in den Worten von Werner Wischet, GSK, zu sagen: „Der Nutzen einer Arzneimittelinnovation entsteht erst mit der Anwendung.“
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