„Rund 7.000 seltene Erkrankungen sind derzeit bekannt“, so Dr. Schulz, Global Senior Medical Director Gene Therapy Platform bei Pfizer. Darunter sind zum Beispiel seltene, neurodegenerative Leiden, die durch Veränderungen im Erbgut hervorgerufen werden. „Die Kinder können von schwerwiegender Behinderung betroffen sein – sie können womöglich nicht laufen, sie haben Probleme beim Atmen und Schlucken. In manchen Fällen sterben sie noch vor ihrem zweiten Geburtstag. Doch da, wo Gentherapien zugelassen und verfügbar sind, gibt es die Möglichkeit, den Verlauf der Erkrankung zu beeinflussen.“ Was das für Auswirkungen haben kann? Dass motorische Funktionen nicht weiter abbauen – oder dass die betroffenen Kinder altersentsprechende Meilensteine in ihrer Entwicklung wie das Laufenlernen erreichen können. „Das Potenzial von Gentherapien ist groß – und damit ist auch die Verantwortung groß, dieses Potenzial […] für Menschen, die aktuell kaum oder keine Therapiemöglichkeiten haben, voll auszuschöpfen.“
Die Forschung jedenfalls ist im Hochleistungsmodus. Insgesamt gibt es laut Dr. Schulz momentan über 500 klinische Studien zu Gentherapien. Bei Pfizer selbst laufen seit 2020 13 Studienprogramme zu Gentherapien in mehreren therapeutischen Bereichen – das Unternehmen ist etwa auf dem Gebiet der Bluterkrankheit Hämophilie oder der Duchenne Muskeldystrophie, eine seltene, fortschreitende Muskelerkrankung, aktiv. Ausgelöst werden beide Erkrankungen durch Genmutationen. Die Idee hinter einer Gentherapie ist es zum Beispiel, in den Körper eines betroffenen Menschen ein funktionsfähiges, gesundes Gen einzuführen – und so die jeweilige Krankheit zu behandeln.
Seltene Erkrankungen: Partnerschaftlich zusammenarbeiten
Doch gerade seltene Erkrankungen gehören zu den „wissenschaftlich herausforderndsten Bereichen“, betont Andy Powrie-Smith vom europäischen Pharmaverband EFPIA. Zwar spricht er von einer „Ära unglaublicher Innovationen“ – doch noch immer sind 95 Prozent der seltenen Erkrankungen nicht behandelbar. Es könnte noch „100 Jahre dauern, bis für all diese Menschen Therapien zur Verfügung stehen“. Daher „ist es unheimlich wichtig, dass wir als Community […] so zusammenarbeiten können, dass die Entwicklung von Therapien […] beschleunigt wird.“ Soll heißen: Kollaboration ist das A und O – Öffentlich-Private Partnerschaften sind gefragt. Powrie-Smith verweist auf Erfolge von Initiativen wie der „Innovative Medicines Initiative“. „Es hat sich gezeigt, dass wir Therapiefortschritte tatsächlich ankurbeln können, wenn wir akademische Welt, kleine und mittelständische Unternehmen, forschende Pharmafirmen und andere Stakeholder zusammenbringen.“ Die besten Köpfe unterschiedlicher Firmen und Einrichtungen an einem Tisch: So lassen sich die komplexesten Fragen der Wissenschaft am besten lösen.
Bedeutung bekommt das allerdings nur, wenn die Patient:innen Zugang zu neuen Therapien erhalten. Daher gilt es zusätzlich, regulatorische Hürden, die die Zulassung und Verfügbarkeit neuer Therapien erschweren, zu identifizieren und zu beseitigen. „Auch hier ist Kollaboration der Schlüssel“, meint Powrie-Smith. Schließlich sind diese Hürden multifaktoriell – und betreffen zum Beispiel die Prozesse der Preisfindung und Erstattung für neue Arzneimittel in den einzelnen EU-Mitgliedsländern.
Der Experte weiß: „Die Gesundheitssysteme sind nach einem alten Modell angelegt, wonach ein Mensch zum Beispiel eine Tablette pro Tag für den Rest seines Lebens erhält.“ Auf der einen Seite verteilen sich die Kosten auf ein ganzes Leben – auf der anderen Seite fallen bei innovativen Gentherapien, die nur einmal gegeben werden, die Kosten zu Beginn an. „Aber der Nutzen – Einsparung für Gesundheitssysteme, Wirkung auf die Patient:innen – entfaltet sich lebenslänglich.“ „Wir müssen daher darüber nachdenken, wie wir die Art und Weise, wie wir neue Technologien in Gesundheitssysteme einführen, verändern und weiterentwickeln können.“ Neue Bezahlmodelle gehören da dazu. Und er wünscht sich ein System in Europa, dass „fairer“ ist; ein System, das die Unterschiede der einzelnen Länder berücksichtigt und es ihnen erlaubt, einen Preis für ein neues Arzneimittel zu bezahlen, der von Faktoren wie ihrer Wirtschaftskraft abhängig ist. „Dafür ist echte Partnerschaft und Solidarität zwischen den Ländern notwendig, es braucht Flexibilität der Unternehmen“.
Gentherapien: Gesundheitssysteme haben viel zu tun
Auch aus Sicht von Andrea Chiarello, EU Government Affairs bei Pfizer, hat Europa eine lange Liste an Hausaufgaben zu erledigen, um besser auf Innovationen wie Gentherapien vorbereitet zu sein. Das fängt bei der Diagnose an. „In den USA ist es normal, dass bei Geburt auf 50 und mehr Krankheiten gescreent wird. In Europa liegt die Spannweite zwischen 3 und 27. Es gibt also nicht nur große Unterschiede zu den USA, sondern auch innerhalb von Europa.“ Ohne Screening, ohne Untersuchung bei Geburt kann es im Zweifel mehrere Jahre dauern, bis Betroffene die richtige Diagnose erhalten. Doch gerade bei Gentherapien ist das Zeitfenster, in dem sie zum Einsatz kommen und das Fortschreiten einer Erkrankung aufhalten können, oft begrenzt.
Und selbst wenn die Diagnose bekannt und eine Therapie vorhanden ist, gibt es weitere Herausforderungen für die Patient:innen und ihre Familien zu bewältigen. Die Menschen in Europa haben nicht gleichermaßen gut Zugang zu innovativen Therapien, teilweise fallen Reisekosten an, hinzu kommen administrative und finanzielle Hürden – gerade bei grenzübergreifender Gesundheitsfürsorge. Verbesserungen wünscht sich Chiarello zudem beim Thema Daten: „Zu dem Zeitpunkt, an dem Gentherapien zugelassen werden, gibt es noch keine Studiendaten über einen Zeitraum von 10 oder 20 Jahren. […] Daher ist es wirklich wichtig, dass wir lernen, alternative Quellen für Evidenz – über klinische Studien hinaus – zu nutzen und zu akzeptieren, wie zum Beispiel Real World Evidence. Wenn wir Patient:innen nach der Gabe einer Gentherapie über viele Jahre nachverfolgen, können wir untersuchen, wie lange und in welchem Ausmaß Gentherapien ihre Wirkung entfalten.“
Das Fazit von Chiarello: „Aktuell entwickeln sich Medizin und Wissenschaft schneller voran als die bestehenden regulatorischen Rahmenbedingungen“. Damit sich das ändert, braucht es mehr „Handlungsdruck“: „Wir müssen alle zusammenarbeiten und neue Modelle der Kollaboration in der Wissenschaft, in der Politik und Gesetzgebung nutzen.“ Das Ziel: „sicherstellen, dass alle Patient:innen in Europa gleichermaßen gut und frühzeitig Zugang zu vielversprechenden Technologien wie Gentherapien haben.“
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