Das Gesundheitswesen in Deutschland gilt als besonders weiblich geprägt. Warum ist der Verein „Healthcare Frauen e.V.“ trotzdem wichtig?
Dr. med. Vanessa Conin-Ohnsorge, Geschäftsführerin IDV GmbH & Gründungsmitglied sowie Ehrenpräsidentin der Healthcare Frauen: Es stimmt, das Gesundheitssystem ist weiblich. Aber: Die führenden Positionen sind noch nicht paritätisch besetzt. Deshalb haben wir 2008 den Verein der Healthcare Frauen offiziell gegründet. Gestartet sind wir als Business-Netzwerk, um uns gegenseitig bzw. Frauen in Führung zu stärken – und um insbesondere auch jungen Frauen den Mut zu geben, in die Sichtbarkeit zu treten. Wir haben uns von Anfang an in einer gesellschaftlichen Verantwortung gesehen. Daher bauten wir ein Mentoring-Programm auf, um Frauen, die den nächsten Karriereschritt planen, dabei zu unterstützen. Selbst im Jahr 2024 braucht es solche Initiativen noch – denn das Ganze ist eine Bewegung, die sehr langsam vonstattengeht: Dahinter stecken jahrhundertelang geprägte Netzwerk- und Gesellschaftsstrukturen. Menschen in Führung fördern oft diejenigen, die ihnen ähnlich sind – auch in Bezug auf das Geschlecht. Uns geht es darum, diese Strukturen aufzubrechen. Denn wir wissen: Diverse Führungsebenen sind die erfolgreichen Führungsebenen – davon profitieren am Ende alle.
Die Onkologie ist ein Beispiel, für das gilt: Führungspositionen bleiben oft männlich dominiert…
Dr. Leonie Uhl, Government Affairs Director bei AMGEN & Beirat Gesundheitsförderung bei Healthcare Frauen: Obwohl inzwischen über 60 Prozent der Studienanfänger:innen für das Fach Medizin und 45 Prozent der berufstätigen Ärzteschaft weiblich sind, sind Frauen in Führungspositionen weiterhin unterrepräsentiert. Zum Beispiel sind nur 10 Prozent aller Chefärzt:innen in kommunalen und kirchlichen Krankenhäusern Frauen. Im Bereich der Universitäten sieht es noch schlechter aus. In der Hämatologie und Onkologie wurden laut dem Arbeitskreis Frauen der DGHO erst im Jahr 2018 die ersten beiden der über 30 universitären Lehrstühle mit einer Frau besetzt. Das hat viel mit vermeintlichen Geschlechterrollen und den Rahmenbedingungen zu tun. Wenige Homeoffice-Möglichkeiten, lange Arbeitszeiten, Schichtdienste: Wie also Beruf und Familie vereinbaren? Da ist im System zu wenig Flexibilität, die Strukturen stimmen nicht. Denkbar wären zum Beispiel mehr Jobsharing-Modelle, bei denen sich zwei Personen eine Vollzeitstelle aufteilen. Hinzu kommt: Anders als in der Industrie gibt es in der Medizin oft keine Förderprogramme oder Coachings, die einen auf eine Führungsaufgabe vorbereiten.
Die Healthcare Frauen haben deshalb das Projekt „Let´s Be Leaders“ ins Leben gerufen?
Uhl: Genau – das ist ein dreiteiliges Trainingsprogramm, um Onkologinnen zu stärken. Es startet im März – Interessierte können sich gerne anmelden. Die zertifizierte Trainerin Nicole Staudinger coacht die teilnehmenden Frauen hinsichtlich Schlagfertigkeit, Resilienz sowie Kommunikation und Konfliktlösung. Denn wir sind überzeugt, dass man schon sehr viel erreichen kann, wenn die Ärztinnen in ihrer Persönlichkeit gestärkt sind. Es geht darum, die Frauen zu empowern – sodass sie das, was sie brauchen, um gute Ärztinnen sein zu können, einfordern. Die Rahmenbedingungen und Konditionen des Programms haben wir so gut wie möglich an die Lebensrealität der Ärztinnen angepasst. Soll heißen: Ein Teil des Trainings ist virtuell. Außerdem ist eine Absage bis vier Wochen vorher ohne Probleme möglich. Die Kosten liegen bei insgesamt 150 Euro, inklusive Übernachtung. Die Teilnehmerinnen bekommen nicht nur ein tolles Coaching – es können auch wichtige Netzwerke entstehen.
Nicht alle Herausforderungen lassen sich lösen, indem man die Frauen stärkt, oder? Schließlich geht es um eingefahrene Strukturen…
Uhl: Deshalb richtet sich der Verein der Healthcare Frauen zusätzlich an die politischen Entscheidungsträger:innen. Für „Let´s Be Leaders“ haben wir ein Positionspapier mit Empfehlungen für die Politik erarbeitet. Wir fordern, dass der Adressatenkreis des Führungspositionen-Gesetzes (FüPoG) auf Krankenhäuser ausgeweitet wird, damit sie verpflichtet sind, weibliche Vorstände einzustellen. Außerdem braucht es flexible, ausgedehntere Betreuungszeiten in Schulen und Kitas, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familienleben zu verbessern. Seitens der Arbeitgeber:innen sind unter anderem familienfreundlichere Arbeits- und Terminstrukturen sowie Programme zur Entwicklung von Führungskompetenzen unabdingbar. Wichtig ist auch, dass öffentliches sowie politisches Bewusstsein für das Thema gestärkt wird – möglich wären zum Beispiel Sensibilisierungskampagnen, welche die spezifischen Herausforderungen und Bedürfnisse von Onkologinnen deutlich machen.
„Wenn wir in der Onkologie bzw. im Gesundheitswesen künftig mehr Frauen auf Führungsebene haben, dann…“
Uhl: …werden wir eine qualitativ hochwertige und zukunftsorientierte Gesundheitsversorgung sicherstellen, die den Herausforderungen des demografischen Wandels gerecht wird. Wir können es uns nicht leisten, hervorragend ausgebildete Ärztinnen zu verlieren, die mit ihrem Wissen und ihrer Empathie unverzichtbar für die Versorgung der wachsenden Zahl an Krebspatient:innen sind.
Conin-Ohnsorge: Wenn wir in der Onkologie und im Gesundheitswesen mehr Frauen auf Führungsebene haben, dann bewegen wir uns in Richtung einer gesünderen Gesellschaft.
Können Sie das bitte ausführen?
Conin-Ohnsorge: Heute haben Ärzt:innen oft nicht die Zeit, um sich so um ihre Patient:innen zu kümmern, wie sie es gerne würden. Zu wenig Personal, zu wenig Zeit, zu wenige Ressourcen. Doch wenn wir die Strukturen verbessern, das Potenzial hochausgebildeter Frauen heben und die Ärzt:innen in ihrer Resilienz und Stärke sind, dann werden sie auch besser ihren Patient:innen helfen können. Sie können ihnen Zuversicht geben und sie im Umgang mit ihrer Krankheit unterstützen, auch auf mentaler Ebene. Das alles trägt dazu bei, dass wir in Richtung einer gesünderen Gesellschaft gehen. Um es nochmal zu sagen: Davon profitieren am Ende alle.
Flyer von Let’s Be Leaders zum Download
Weiterführende Links:
Anmeldung zu „Let´s Be Leaders” – ein Trainingsprogramm für Onkologinnen
Pharma Fakten-Serie „Ausgerechnet Pharma? Die Menschen und ihre Jobs“
Krebstherapie: Es braucht mehr Mutausbrüche
Herbsttagung der Initiative Vision Zero in der Onkologie: Die Initiative, getragen von Expert:innen aus Forschung, Medizin, Unternehmen der Medizintechnik und forschenden Pharmaunternehmen, will die Krebsmedizin revolutionieren. Vor fünf Jahren gegründet, liegt ein Fokus auf der Digitalisierung. In München war Herbsttagung.
International Women’s Day: Frauen inspirieren Frauen
Das Motto des diesjährigen Welt-Frauen-Tags lautet: „Inspire Inclusion“. Wie das in der Realität aussehen kann? Das zeigen viele Beispiele aus der pharmazeutischen Industrie in Deutschland. Dort ist fast jede dritte Führungskraft weiblich. Rund 40 Prozent der Vollzeit-Beschäftigten sind es ebenfalls. Sie sind Vorbilder für die Nachwuchstalente von heute und morgen.
Gender Health Gap macht krank
„Wäre Endometriose eine Männerkrankheit, wüsstet ihr genau, was das ist“, sagt Wissenschaftsjournalistin Dr. Mai Thi Nguyen-Kim. Stattdessen ist diese Unterleibserkrankung für viele Menschen eine große Unbekannte. Es ist ein Beispiel von vielen, das verdeutlicht, wie riesig das „Gender Health Gap“ noch immer ist. Die Folge dieser „Lücke“ in Medizin und Gesundheitswesen: Menschen, die nicht in das Raster von „männlich, weiß, cisgender“ passen, erhalten oftmals eine schlechtere gesundheitliche Versorgung.