Eine Gedankenreise: Du bist 16, als Dich die Diagnose umhaut; Hodgkin-Lymphom, eine Blutkrebsart, die unbehandelt zum Tod führt. Zum Glück hat die Forschung nicht geschlafen – im Gegenteil: Mit einer Chemotherapie und einem Antikörper stehen die Heilungschancen bei 98,6 Prozent. Du kämpfst, Du bist so tapfer, ein Team von Ärzt:innen und Pfleger:innen, Deine Familie, Deine Freund:innen stehen Dir zu Seite. Dann die Behandlung, nur wer sie durchgemacht hat, weiß, was Du durchmachst. Schließlich die ersehnte Nachricht: Du bist krebsfrei, kannst Dein Abitur machen, versuchst, Deine Seele von dem Alptraum freizustrampeln. Jedes Jahr eine Kontrolle – das ist es.
Von wegen.
Dein Leben geht weiter. Eine Berufsausbildung, das erste Geld und die Frage: Welche Versicherungen sollte ich abschließen? Da lernst Du das erste Mal, dass das System nicht vergessen will. Nein, keine Lebensversicherung, keine Kredite für eine Wohnung, nicht mal eine Reiserücktrittsversicherung. Oder zu horrenden Prämien. Du musst Dir Dinge anhören wie: „Niemand versichert ein brennendes Haus.“ Ein brennendes Haus.
Jahre später: Familienplanung. Doch die Krankheit hat Spuren hinterlassen. Wieder ein Rückschlag. Aber ihr wollt Kinder, also bleibt die Adoption. Doch egal, wie lange Du schon krebsfrei bist: Eine Adoption soll auch nicht sein. Vielleicht kommt der Krebs wieder und wer sichert dann die Zukunft des Kindes?
Durchatmen. Du lernst: Du bist nicht krank, aber aus Sicht des Systems offenbar zu krank. Der Krebs ist weg, aber er wirft einen langen Schatten.
Junge Menschen mit Krebs: 30 Prozent erfahren Benachteiligungen
Auf dem Satellitensymposium der DSfjEmK in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Onkologie und Hämatologie (DGHO) wird klar: Es sind keine Einzelfälle, es hat System. Nach einer Umfrage sind es 30 Prozent der „Survivors”, der Überlebenden einer Krebserkrankung, die schon einmal Benachteiligungen erlebt haben; 13,5 Prozent von ihnen mehr als 5 Jahre nach der Diagnose. Luca? Keine Verbeamtung wegen des hohen Risikos einer frühen Dienstunfähigkeit – ihre Krebserkrankung ist zu diesem Zeitpunkt 10 Jahre her. Miriam? Kein Abschluss einer Risikolebensversicherung zur Absicherung eines Hauskredits 12 Jahre nach ihrer Leukämieerkrankung. Michelle, die auf dem Symposium ihre Geschichte schilderte, scheiterte an dem Versuch, eine Berufsunfähigkeitsversicherung abzuschließen – die Krebserkrankung als Ausschlusskriterium, 11 Jahre nach ihrer erfolgreichen Therapie.
„Der Raucher, der 20 Jahre 2 Päckchen geraucht hat“, sagt Professor Dr. Andreas Hochhaus von der DGHO, „hat keine Nachteile beim Abschließen einer Versicherung, obwohl er ein erhebliches Risiko auf Herzinfarkt oder Lungenkrebs hat. Aber ein junger Mensch mit seiner sehr, sehr guten Chance, nicht wieder zu erkranken, hat Nachteile. Das ist der große Widerspruch im System.“
„Right to be Forgotten“: Deutschland hinkt hinterher
Das muss nicht sein. In anderen Ländern gibt es ein Recht auf Vergessenwerden. Mit dem „Right to be Forgotten“, das erstmals auch in einer EU-Richtlinie verankert ist, sollen Krebsüberlebende vor Diskriminierung geschützt werden – etwa indem festgelegt wird, welche Gesundheitsfragen vor dem Abschluss einer Lebensversicherung gestellt werden dürfen; oder indem geregelt ist, dass digitale Informationen mit Personenbezug nicht dauerhaft gespeichert, sondern nach einer bestimmten Zeit gelöscht werden müssen. In Europa gibt es verschiedene Modelle und Fristen, erläuterte Professorin Dr. Inken Hilgendorf, Kuratoriumsvorsitzende der Stiftung. Spanien, Frankreich, Italien, Belgien oder Niederlande – sie alle haben ein „Right to be Forgotten“ gesetzlich verankert.
In Deutschlang gibt es eine solche Regelung nicht. „Ein Armutszeugnis“, findet Hilgendorf. Ihre Forderung: „Die sofortige Anerkennung und Umsetzung des Rechts auf Vergessenwerden für Überlebende, die seit 5 Jahren krebsfrei sind.“ Frankreich hat im Jahr 2016 ein solches Gesetz mit einer Frist von 10 Jahren eingeführt, hat sie aber mittlerweile auf 5 Jahre verkürzt.
Warum es in Deutschland nicht klappt? Professor Dr. Hochhaus hat eine Vermutung: „Deutschland ist in der sozialrechtlichen Denke sehr konservativ – konservativ im Sinne von altbacken, im Sinne eines ´Das-war-schon-immer-so`.“ Und das bedeutet, „dass auf das medizinische Stigma das soziale Stigma folgt“, sagt Professorin Hilgendorf. Das zu ändern ist überfällig.
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