Krebs und Alzheimer – diese beiden Erkrankungen führen die Hitliste an, wenn es um die Frage geht, vor welchen gesundheitlichen Schicksalsschlägen die Menschen sich am meisten fürchten. Neurolog:innen, so hört man, schauen immer etwas neidisch zu den Krebsforschenden, denn das was sich in der Onkologie in Sachen Fortschritt tut, hätten sie in der Behandlung von Demenzerkrankungen auch gerne. Das immer tiefergehende Verständnis für die Entstehung von Tumorerkrankungen hat zu neuen Therapieansätzen geführt, von denen selbst Fachleute vor wenigen Jahren nicht zu träumen gewagt hätten.
Dr. Andre, wie bewerten Sie das, was gerade in der Onkologie in Sachen Fortschritt passiert?
Dr. Niko Andre: Der Fortschritt ist rasant – das ist gar nicht von der Hand zu weisen. Aber: Wir haben auch noch viel Luft nach oben. Wir haben eine Lücke zwischen dem, was wir heute schon können, und dem, was wir tatsächlich für Patientinnen und Patienten erreichen – und die müssen wir schließen.
Was muss passieren?
Andre: Es braucht unter anderem mehr gesundheitsmedizinische Aufklärung, verstärkte Implementierung von Früherkennungsmaßnahmen, bessere Verfügbarkeit molekularer Testung. Die Frage ist ja nicht nur: Wird der Krebs früh festgestellt? Die Frage ist: Wird er vollumfänglich diagnostiziert, werden alle verfügbaren Biomarkertests angewandt? Denn Voraussetzung für eine Therapie mit modernen Immunonkologika oder zielgerichteten Arzneimitteln ist, dass der Tumor nicht nur erkannt wird, sondern auch die genetischen, molekularen und zellulären Besonderheiten beim jeweiligen Patienten untersucht werden. Um welche genetische Mutation handelt es sich genau? Nur mit einem solchen Wissen kann über die bestmögliche Therapie entschieden werden. Da gibt es noch viele Optimierungsmöglichkeiten, unter anderem, weil oft nicht geklärt ist, wer die Tests bezahlt. Flächendeckende Testinfrastruktur ist heute eine Grundvoraussetzung für erfolgreiche, moderne Onkologie. Diese Infrastruktur ist noch ausbaufähig.
Was ist so schwer daran, eine Infrastruktur für Biomarker-Testung aufzubauen?
Andre: Vor 15 Jahren kannte man zwei bis drei Biomarker, heute kennen wir Hunderte. Wir haben es mit einem rasanten Wachstum an Wissen zu tun, das man erstmal managen muss. Was wir in den vergangenen Jahren dazu gelernt haben, ist absolut fantastisch. Aber es braucht halt seine Zeit, bis das in der Versorgung ankommt.
Es reicht gar nicht mehr, „nur“ Arzneimittel zu entwickeln?
Andre: Nein, das Konzept haben wir schon vor vielen Jahren aufgebrochen und weiterentwickelt. Es reicht schon lange nicht mehr, einfach ein Arzneimittel zu entwickeln und darauf zu hoffen, dass es dann auch bei den Menschen ankommt. Manche dieser Innovationen sind der Treiber, um medizinische Versorgungsstrukturen zu überdenken – mit dem Ziel, die Behandlung zu verbessern. Natürlich bleibt die Therapiehoheit bei den Ärzt:innen, aber wir verstehen uns als Partner, um mit unserer Expertise von Forschung, Entwicklung und Behandlung den Erfolg einer Krebstherapie deutlich zu verbessern bzw. erst möglich zu machen.
Das bedeutet, dass das Versorgungssystem dem pharmazeutischen Fortschritt hinterherläuft?
Andre: Ja, aber das war schon immer so. Dazu gibt es auch Studien, die zeigen, dass eine bahnbrechende Innovation rund drei Monate braucht, bis sie an Universitätskliniken angewendet, sechs bis zwölf Monate, bis sie an großen Krankenhäusern eingesetzt wird und drei bis vier Jahre, bis sie in der Breite der Versorgung ankommt. Das sind Zahlen aus den USA, aber sie zeigen, was wir hier für einen Filtereffekt haben. Das trifft uns in der Onkologie besonders, weil wir hier im Hochinnovationssegment unterwegs sind. Und weil wir, wie in keiner anderen Disziplin, so nah dran sind an den Grundprinzipien von Leben, Wachsen und Sterben. Deshalb ist in der Onkologie die Grundlagenforschung so wichtig. Aber nochmal: Es muss unser Anspruch sein, die Lücke zwischen dem, was wir heute schon können, und dem, was wir in der Realität tatsächlich umsetzen, zu schließen.
Wenn Sie zurückblicken: Was sind die Fortschritte in der Krebsforschung, die sie am meisten beeindruckt haben?
Andre: Ganz klar: Die Immunonkologie – und damit das Verständnis vom Zusammenspiel zwischen Immunprozessen und Krebsentstehung und -wachstum. Wir sind heute in der Lage, aktiv in die Immunantwort einzugreifen, um Krebszellen gezielt zu vernichten. Das ist das, was wir seit dem Jahr 2010 mit der Medikamentenklasse der Checkpoint-Inhibitoren tun können. Für mich ist das ein zentraler Meilenstein. In der Immunonkologie steckt der Schlüssel, um langfristige Heilungserfolge zu erreichen. Dann kommen – zweitens – die zielgerichteten Therapien, die passgenau genetische Veränderungen in Tumoren angehen. Das sind zum Beispiel die Tyrosinkinase-Inhibitoren (TKI), denen wir die unglaublichen Fortschritte bei bestimmten Formen des nicht-klein-zelligen Lungenkrebses verdanken. Wir sprechen hier von einer chemisch-biologischen Meisterleistung im Moleküldesign zum Teil mit bahnbrechender Wirksamkeit. Das Gleiche gilt für die Antikörper-Wirkstoff-Konjugate als eine der wichtigsten aktuellen und zukünftigen Substanzklassen. Drittens die Diagnostik. Wenn wir uns die Fortschritte der Bildgebung in all ihren Facetten anschauen, dann muss man feststellen: Vor zwanzig Jahren haben wir im Grunde ohne Brille in die Ferne geguckt – heute haben wir die richtig scharfen Gläser auf. Und der nächste Schritt ergibt sich aus der Kombination der einzelnen Elemente: Ein multidisziplinärer Ansatz der Krebsbekämpfung ist für mich der vierte Meilenstein.
Ein Blick nach vorne: Was erwarten Sie in den kommenden Jahren?
Andre: Da sehe ich die Antikörper-Wirkstoff-Konjugate vorne. Einfach, weil sie uns die Möglichkeit geben, die Potenz der Chemotherapie gezielt dort einzusetzen, wo sie Krebszellen abtöten sollen – und nicht alles andere darum auch noch. Es ist ein Paradigmenwechsel: Wir kommen weg von hochtoxischer Chemotherapie zu sehr viel gezielteren Behandlungen, die effizienter und nebenwirkungsärmer sind. Da haben wir etwa im Bereich des HER2-positiven Krebses heute schon ADCs im Einsatz, die die Überlebensraten und die Lebensqualität zu den bisherigen Standardtherapien substanziell verbessert haben. Und jetzt sehen wir, dass die ADCs auch bei anderen Krebsarten hervorragend funktionieren können. Das zeigen unsere Entwicklungsprogramme für die unterschiedlichsten Krebserkrankungen.
Was wird sich in der Onkologie in Zukunft noch ändern?
Andre: Die Frage ist eher, was sich ändern muss. Wir wissen, dass wir die Hälfte der Krebstoten gar nicht hätten, wenn wir konsequent in Prävention und Früherkennung investieren würden. Nehmen wir Dickdarmkrebs: Den müsste es eigentlich gar nicht geben, wenn alle Menschen ab 50 Jahren zur Koloskopie gehen würden. Das gilt auch für viele andere Krebsarten, wo wir wissen, dass entsprechende Screening-Programme die Sterblichkeit deutlich senken können, wenn sie wahrgenommen werden. Da können und müssen wir mehr tun, aber das liegt natürlich auch an jedem von uns selbst, diese Angebote anzunehmen.
Bei Google wird häufig danach gesucht, wann Krebs heilbar ist. Also: Wann ist Krebs heilbar?
Andre: Wir sprechen bei AstraZeneca lieber davon, Krebs als Todesursache zu eliminieren. Wir sehen heute schon, dass es uns in einzelnen Indikationen gelingt, zu langfristiger Tumorfreiheit zu kommen, die im Grunde eine Heilung ist. Wenn überall auf der Welt der höchste Standard an Krebsvorsorge, früher Diagnostik, früher Testung und optimaler Therapie herrschen würde, dann hätten wir einen Wahnsinnsfortschritt.
„Wir wollen die Krebstherapie revolutionieren“, heißt es auf Ihrer Webseite. Wie soll das aussehen?
Andre: Das ist die konsequente Kombination all dieser Elemente der Krebsbehandlung, über die wir gesprochen haben. Es geht uns hier um ein holistisches Behandlungskonzept – nach dem Motto: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Einzelteile. Außerdem wollen wir unsere Innovationskraft als führendes Forschungs- und Entwicklungsunternehmen in die Weiterentwicklung der Versorgungsstruktur einbringen; wir sehen uns als Partner, der die Infrastruktur mit verbessern will, damit die Menschen von den Innovationen in der Krebsmedizin profitieren können.
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