Professor von Kalle, warum setzt sich ein Krebswissenschaftler für eine Industriebranche ein? Wollen Sie jetzt unter die Unternehmer gehen?

Christof von Kalle: Ich bin Arzt geworden, weil ich kranken Menschen helfen will. Und um dazu beizutragen, dass sie gar nicht erst krank werden. Dafür müssen wir die bestmöglichen Rahmenbedingungen schaffen – etwa dafür, dass Innovationen entwickelt und zugelassen werden, um sie schnell in die medizinische Versorgung zu bringen, sprich: zu den Menschen, die sie dringend brauchen. Dabei spielt die iGW eine wichtige Rolle. Oder anders: Eine starke iGW ist ein wichtiger Baustein für die Umsetzung der Medizin von heute und für die Entwicklung der Medizin von morgen.
Bitte erläutern Sie das…
Von Kalle: Gerade bei Krebs erleben wir in diesen Jahren einen regelrechten Boom an neuen Möglichkeiten, Tumorerkrankungen besser zu behandeln. Das sind neue Therapien, das sind die faszinierenden Instrumente, die uns heute etwa bei der Bildgebung zur Verfügung stehen. Oder die datengetriebene Medizin, in der uns die Informationstechnologie erlaubt, große Datenmengen nach Signalen zu durchforsten, um im Krankheitsverlauf gezielter und schneller eingreifen zu können. Um das zu nutzen und weiterzuentwickeln, brauchen wir eine starke Gesundheitswirtschaft – sie ist einfach die Antwort darauf, wenn wir uns die Fragen stellen, wie wir noch besser werden können im Kampf gegen Krebs.
Aber die Menschen sind oft eher skeptisch, wenn große Industrien mitmischen…
Von Kalle: Wir Mediziner, die Betroffenen, die Healthcare-Industrie haben alle dasselbe Ziel: Wir wollen den Krebs zurückdrängen – möglichst auf null, so wie wir uns das bei Vision Zero vorgenommen haben. Nur: Ohne die Produkte aus der iGW wären wir heute weit von den Fortschritten entfernt, die im klinischen Alltag längst Realität sind. Brustkrebs? Die Betroffenen erreichen bei früher Diagnose Überlebensraten von rund 90 Prozent. Ähnliche Werte können wir bei Haut- und Prostatakrebs zeigen…
Beeindruckend…

Von Kalle: Ja, sehr beeindruckend. Aber bei vielen Krebsarten gelingt das so bisher leider noch nicht. Dass es für immer mehr Patienten diesen Erfolg gibt, da wollen wir hin – das gelingt uns aber nur, wenn wir wirklich jeden Stein umdrehen. Und einer dieser Steine ist die Stärkung der iGW. Da sind wir in Deutschland eigentlich gut aufgestellt: Wir haben Universitätskliniken, Forschungsinstitutionen, Top-Medizintechnikfirmen, Pharma-, Biotechnologie- und zunehmend auch Health-IT-Unternehmen von Weltformat – die Voraussetzungen für ein Innovationsökosystem sind hervorragend. Aber es gibt auch viele Bremsen – und die wollen wir lösen.
Welche Bremsen sind das?
Von Kalle: Das sind die üblichen Verdächtigen – ich nenne nur mal zwei: Es ist ein Zuviel an Bürokratie, ein Zuwenig an Digitalisierung. Die gute Nachricht ist, dass in dieser Legislaturperiode unter anderem mit den Digitalgesetzen und dem Medizinforschungsgesetz die richtigen Weichen gestellt worden sind. Aber nun müssen Taten folgen. Unser Masterplan zeigt auf, was passieren muss und wir hoffen, dass wir bei der neuen Regierung damit Gehör finden.
Es hieß zuletzt immer wieder, dass Deutschland bei den klinischen Studien international den Anschluss verliert. Warum ist das so wichtig – letztlich ist doch egal, wo die Studien stattfinden?

Von Kalle: Klinische Studien sind der Transmissionsriemen zwischen einer Idee, mit einem bestimmten Ansatz eine Krankheit zu bekämpfen, und dem Proof-of-Concept – also der Frage, ob diese Idee für die Patientinnen und Patienten ein Mehrwert darstellt. Deshalb: Nein, es ist nicht egal wo die Studien stattfinden. In manchen Indikationen – etwa beim Lungenkarzinom – ist der Fortschritt so rasant, dass Betroffene direkt in eine klinische Studie eingeschlossen werden. Für diese Menschen kann eine klinische Studie die buchstäblich letzte Therapieoption sein – und deshalb wird es einem Münchner nicht egal sein, dass eine Studie nur in Mailand und nicht auch in seiner Heimat umgesetzt wird. Er hat die Zeit einfach nicht, auf die Zulassung zu warten. Hinzu kommt: Klinische Studien geben uns Ärztinnen und Ärzten die Möglichkeit, die Zukunft der Medizin mitzugestalten; sie sind ein Stück medizinische Zukunftsmusik. Das aber funktioniert nur richtig gut, wenn wir das Ganze als ein Innovationsökosystem denken und umsetzen. Und dazu gehört die enge Zusammenarbeit der Akademie mit der Wirtschaft. Wir wollen, dass aus guten Ideen hervorragende Produkte werden. Wir müssen diese Translationslücke endlich schließen.
Wie groß sind Ihre Hoffnungen, dass die Politik ihr Papier auch liest?
Von Kalle: Ich bin optimistisch, denn von einem solchen Innovationsökosystem profitieren alle: Der Wissenschaftsstandort, weil die modernsten Ansätze auch hierzulande weiterentwickelt werden. Der Wirtschaftsstandort, weil wir hochqualifizierte Arbeitsplätze schaffen. Am meisten profitieren die Menschen mit Krebs: Weil wir die Art und Weise, wie wir Tumorerkrankungen behandeln, nachhaltig verbessern werden. Unseren Masterplan umzusetzen, macht einfach Sinn.
Weiterführender Link:
Vision Zero: Wake-up Call
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