Das Bild einer anonymen, düsteren „Big Pharma“, die mit ihrem Tun und Handeln die Gesundheits- und Sozialsysteme sprengt und Patient:innen ins Unglück stürzt: Es ist weitbekannt – schließlich gibt es kein Jahr, in dem es in der medialen Öffentlichkeit nicht mehrfach heraufbeschworen wird. Auch 2024 kam es so. Und nun verbreitet das WIdO aktuell wieder mal die These von Arzneimitteln als „Kostentreiber“ – das GKV-System dürfe nicht überfordert werden. Gut, wenn Redaktionen wie die von ZDFheute untersuchen wollen, was an solchen und ähnlichen Vorwürfen dran ist. Schade, wenn sie bei einem „Faktencheck“ so ziemlich alle essenziellen Fakten außer Acht lassen, die für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema wichtig gewesen wären.
Pharma: Das „Moralparadoxon der Moderne“
Vermutlich sitzt der Gedanke einfach zu tief: Mit dem Leid von Menschen darf man kein Geld verdienen – geschenkt. Die Sache ist die: Das tut die Pharmaindustrie gar nicht.
Der Ökonom und Wirtschaftsethiker Prof. Dr. Ingo Pies hat sich in einem Diskussionspapier dem sogenannten „Moralparadoxon der Moderne“ gewidmet. Gemeint ist, „dass die moderne (Welt-)Gesellschaft – wie keine Gesellschaftsformation vor ihr – wichtige moralische Anliegen verwirklichen kann und ansatzweise auch tatsächlich verwirklicht, während sie – wie keine Gesellschaftsformation vor ihr – auf moralische Vorbehalte stößt, die bis zur radikalen Ablehnung ihrer Funktionslogik reichen können.“ Am Beispiel: „Bäcker leben davon, hungrige Menschen mit Brot zu versorgen. Ärzte leben davon, kranke Menschen zu behandeln; Pharmaunternehmen davon, sie mit (immer besseren) Medikamenten zu versorgen.“ Doch statt den Nutzen zu sehen, wird das Geschäftsmodell dahinter hinterfragt oder gar abgelehnt. Pies jedoch sagt: „Märkte sind dazu da, die Not anderer Menschen zu verringern sowie – etwas weniger dramatisch – ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Dass man damit – wohlgemerkt: nicht mit dem Leid, sondern mit der Linderung von Leid – Geld verdient, ist sinnvollerweise Mittel zum Zweck“. Er ergänzt: „Hier wird das Eigeninteresse von Marktteilnehmern dafür in Dienst genommen, sich im Rahmen einer hoch leistungsfähigen gesellschaftlichen Kooperationsveranstaltung anderen Menschen als nützlich zu erweisen. Was könnte moralischer sein?“
Medizinischer Fortschritt fällt nicht vom Himmel
Pocken? Ausgerottet. Krebs? Immer besser behandelbar. HIV? Kein Todesurteil mehr. Hepatitis C? In der Regel heilbar. Die Liste des Fortschritts ist lang. Untergegangen ist das Gesundheitssystem nicht. Warum eigentlich wird die Pharmaindustrie so verteufelt? Fakt ist: Möglich war all das nur, weil forschende Unternehmen die Ressourcen hatten, um an neuen Arzneimitteln und Impfstoffen zu arbeiten. Wer kritisch sieht, dass mit solchen Präparaten Geld verdient wird, der sollte ehrlicherweise im Blick haben, was ohne finanzielle Anreize passieren würde: Die Medizin von heute gäbe es in dieser Form nicht – darunter Gentherapien gegen seltene Leiden, zielgerichtete Tumorbehandlungen, Vakzine gegen COVID-19.
Denn die Entwicklung von Medikamenten ist lang, risikoreich und teuer. Allein die klinische Studien-Phase dauert im Schnitt rund acht Jahre. Von 100 Präparaten, die es in die klinische Forschung schaffen, erreichen sieben eine Zulassung. Daher gilt: Nur wirtschaftlich erfolgreiche Firmen können an Lösungen für die größten gesundheitlichen Herausforderungen der Menschheit wie Morbus Alzheimer arbeiten. Mit den Einnahmen von heute finanzieren sie die Wirkstoffe von morgen. „Gewinne sind kein Selbstzweck, sondern ein Instrument, um gesellschaftliche Ziele zu erreichen“, erklärte Oliver Kirst, Geschäftsführer von Servier Deutschland, vergangenes Jahr im Pharma Fakten-Interview.
Mehrere Studien zeigen darüber hinaus, dass die Gewinne auf das eingesetzte Kapital (inkl. sog. „intangibles Vermögen“) im Pharmasektor seit Jahrzehnten weitgehend dem Investitionsrisiko entsprechen und die pharmazeutische Industrie hierbei im Branchenvergleich im Mittelfeld liegt (mehr dazu hier).
Warum das Gesundheitssystem wirklich an seine Grenzen kommt
Was aber ist mit der finanziellen Stabilität des Gesundheitswesens: Bringen Arzneimittel das deutsche System an seine Grenzen, wie zuletzt ZDFheute oder das WIdO suggerierten? Wenn dem so wäre, müssten die Arzneimittelausgaben kontinuierlich stärker steigen als die gesamten Ausgaben der GKV. Doch tatsächlich lag der Arzneimittel-Anteil 2023 bei 16,4 Prozent und somit auf exakt demselben Niveau wie zehn Jahre zuvor – so viel zur Kostentreiber-These. Auch die Tatsache, dass der Anteil der patentgeschützten Präparate an allen Medikamenten sinkt und damit anteilig immer teurer wird, ist wenig skandalträchtig. Schließlich wächst Jahr für Jahr der Bestand an Generika.
Der pharmazeutische Innovationszyklus funktioniert: Was in den 1990er-Jahren innovativ war – wie ehemals patentgeschützte Medikamente für Herz-Kreislauf-Erkrankungen – gilt heute als bewährt und kostengünstig. Stattdessen macht die Forschung nun zum Beispiel in der Onkologie große Fortschritte, sodass hier mehr Innovationen zur Verfügung stehen. Und ja, sie kosten Geld. Zumal es mit ihnen zunehmend gelingt, in Nischen vorzudringen – etwa im Bereich seltener Erkrankungen. Aber auch diese Therapien werden eines Tages als Generika zur Verfügung stehen.
Dass das Gesundheitssystems finanziell auf wackeligen Beinen steht, hat andere Gründe: wachsende Bevölkerung, älter werdende Gesellschaft, mehr Menschen nehmen medizinische Versorgung in Anspruch. Hinzu kommt ein nicht enden wollender Reformstau: Immerhin, Prof. Dr. Karl Lauterbach hat mehr als 15 Gesetze bislang durchgekriegt, darunter die Digitalgesetze. Wichtig ist auch eine Krankenhausreform, um die stationäre Versorgung für die Zukunft fit zu machen. Das deutsche Gesundheitssystem ist ineffizient – zu viel Bürokratie, mangelnde Digitalisierung, Doppelstrukturen. Da gibt es viel zu tun.
Pharma: Reiner Kostenfaktor?
Dass pharmazeutische Unternehmen das Gesundheitssystem nicht schwächen, sondern vielmehr stärken, die Wirtschaft ankurbeln und gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten schaffen, fällt in der Bösewicht-Darstellung gerne mal unter den Tisch. Da bleibt unerwähnt, was Medikamente und Impfstoffe alles leisten, indem sie dafür sorgen, dass die Menschen länger gesund sind – und sie dadurch ihr Leben mehr genießen, ihrer Arbeit nachgehen sowie zusätzliche Steuereinnahmen generieren können.
Beispiel Onkologie: Laut Berechnungen des Wirtschaftsprofessors Frank R. Lichtenberg auf Basis von Daten aus Spanien sind Arzneimittelinnovationen von 1999 bis 2016 für einen Lebenszeitgewinn von rund 2,8 Jahren bei Krebs-Erkrankten verantwortlich – das entspricht 96 Prozent des Gesamtanstiegs der Lebenszeit. Analysen aus Deutschland verdeutlichen zudem, dass Betroffene immer länger erwerbsfähig bleiben – gut für die Menschen, für die Gesellschaft, für die Wirtschaft.
Die pharmazeutische Industrie hat in der EU eine Bruttowertschöpfung in Höhe von 163 Milliarden Euro. Circa 633.200 Menschen sind bei ihr angestellt, hinzu kommen viele weitere Jobs, die sie indirekt ermöglicht bzw. induziert hat, etwa über die Lieferketten.
Das sind nur wenige Beispiele für die tatsächlichen „Risiken und Nebenwirkungen“ der Industrie. Angesichts des demografischen Wandels, Krisenzeitalters, einer schwächelnden Gesamtwirtschaft werden sie jeden Tag wichtiger für Deutschland. Die Politik will daher – Stichwort „Nationale Pharmastrategie“ – handeln, damit die Bundesrepublik als Standort für Forschung und Produktion attraktiver wird. Was passiert, wenn die Rahmenbedingungen nicht verbessert werden, haben die vergangenen Jahre gezeigt: Forschung und Herstellung wanderten zum Teil in andere Länder ab, neu zugelassene Medikamente schafften es nicht in die Versorgung. Das trifft Patient:innen, Mediziner:innen, Wissenschaftler:innen – das gesamte Land. Gut, dass da die Politik nicht untätig bleibt.
Gesellschaftliche Modernisierungsprozesse: Bremsen oder fördern?
Prof. Dr. Pies schreibt: „Tugendethiker werfen immer wieder die Frage auf: ‚Sollten wir als Gesellschaft den Unternehmen (nicht länger) erlauben, mit lebenswichtigen Gütern Gewinne zu erwirtschaften? ‘“ Er findet: Man könnte – zumindest ergänzend – „auf den Gedanken kommen, sich nicht als Bremser, sondern als Treiber gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse zu positionieren und die Frage einfach umzukehren“. Also: „Wie können wir als Gesellschaft Unternehmen ermutigen und in die Lage versetzen, durch die Aussicht auf zu erwirtschaftende Gewinne die Bürger mit lebenswichtigen Gütern (und Innovationen!) zu versorgen?“ Das lässt sich auf neuartige Medikamente übertragen. Und mit Blick auf Lieferengpässe bei Generika zeigt sich ebenfalls: Gute Versorgung funktioniert nicht, wenn kritische Arzneimittel weniger als ein Frühstücksei oder Schnürsenkel kosten dürfen.
Produziert wird nur, was Geld bringt? In der medialen Berichterstattung mag es manchmal anders wirken – aber Tatsache ist: Wirtschaftsunternehmen haben kein Interesse daran, ihre Produkte nicht verfügbar zu machen, auch forschende Pharmafirmen nicht. Doch wertorientierte Arzneimittelpreise sind Voraussetzung dafür, dass sie die Ausgaben für die Entwicklung weiterer innovativer Therapien für die Patient:innen von morgen dauerhaft aufbringen können. Davon abgesehen arbeiten die Firmen an Strategien, um ihre Präparate in ärmeren Regionen der Welt zugänglich zu machen – sogenannte nicht-exklusive freiwillige Lizenzvereinbarungen kommen unter anderem zum Einsatz. Vom Bösewicht-Image bleibt nach einem Backgroundcheck, der in die Tiefe geht, wenig übrig.
Weiterführende Links: „Forschende Pharmaindustrie. Für Gesundheit, Innovation und Wohlstand.“ (Pharma Fakten-Flyer)
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Verdient die Pharmaindustrie, was sie verdient?
Die pharmazeutische Industrie gilt als profitabel. Zu profitabel, wie ihre Kritiker finden. Darüber, ob es ethisch zulässig ist, mit den Krankheiten der Menschen Geld zu verdienen und ob die pharmazeutische Industrie verdient, was sie verdient, sprachen wir mit Oliver Kirst, Geschäftsführer des forschenden französischen Pharmaunternehmens Servier Deutschland.