Auch in diesem Jahr müssen Deutschlands Apotheker:innen den Mangel verwalten – trotz eines Anti-Lieferengpassgesetzes. Über die Hintergründe ein Interview mit Dr. Kai Joachimsen vom BPI.
Auch in diesem Jahr müssen Deutschlands Apotheker:innen den Mangel verwalten – trotz eines Anti-Lieferengpassgesetzes. Über die Hintergründe ein Interview mit Dr. Kai Joachimsen vom BPI.

Lieferengpässe: Gesetz ohne Wirkung

Geschichte wiederholt sich: Auch in diesem Jahr rechnen Deutschlands Apotheke:rinnen damit, den Mangel verwalten zu müssen: Rund 500 patentfreie Arzneimittel sind zurzeit als nicht lieferbar gemeldet, zählt man die verschiedenen Dosierungsvarianten dazu, sollen es bereits 1.500 sein. Das im vergangenen Jahr auf den Weg gebrachte Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) zeigt keine Wirkung, kritisiert Dr. Kai Joachimsen vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) im Pharma Fakten-Interview.

Nicht jeder Lieferengpass ist ein Versorgungsproblem – aber die Nachrichten über Engpässe häufen sich mal wieder. Wie schlimm ist die Situation?

Dr. Kai Joachimsen: Es ist ja im Grunde schon ein politisches Unding, dass das Thema in diesem Ausmaß überhaupt noch besteht – und nun schon im 3. Jahr hintereinander. Wir haben rund 500 gemeldete Präparate – das geht von Diabetes- und HIV-Mitteln, über Krebs-, Antibiotika- oder Asthmapräparaten. Für Vieles gibt es Alternativen, aber wir sehen auch versorgungsrelevante Ausfälle. Eigentlich wollte die Politik das mit dem ALBVVG ändern. Das so genannte Anti-Lieferengpassgesetz ist aber mehr oder weniger wirkungsfrei verpufft. Wie schrieb die Ärzte Zeitung so schön? „Das Gesetz ist bisher nur weiße Salbe.

Dr. Kai Joachimsen vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI)
Dr. Kai Joachimsen vom BPI. Foto: BPI

Woran liegt es?

Joachimsen: Zunächst wurde von vornherein der Wirkungsbereich eingeschränkt; das Gesetz hat neue Regelungen für Kinderarzneimittel, Antibiotika und einige Krebsmedikamente erlassen. Das klingt erstmal gut, aber wir sprechen hier von 2 Prozent aller Arzneimittel. Für die verbleibenden 98 Prozent gibt es solche Regelungen nicht. Hinter dieser Zahl stehen zum Beispiel Menschen mit chronischen Erkrankungen, die im schlimmsten Fall gezwungen sind, Apotheken abzuklappern, um ihr Medikament zu bekommen. Aber das ALBVVG hat selbst da, wo es anwendbar ist, kaum Wirkung. Der Preis für das Antibiotikum Doxyclicin liegt bei 42 Cent für die 10er-Packung – es gab einmal 40 Hersteller für das Präparat – und entsprechende Ausweichmöglichkeiten, etwa, wenn bei einem Unternehmen die Produktion ins Stocken geriet. Heute sind es noch 2.

42 Cent?

Joachimsen: Vor diesem Hintergrund zu glauben, dass man wieder mehr Fertigungskapazitäten nach Europa holen könnte – auch das ist ja ein erklärtes Ziel des ALBVVG – ist naiv. Zu diesem Preis können Sie beim besten Willen einfach nicht produzieren. Überhaupt kursieren dazu etwas unrealistische Szenarien…

Bitte erklären Sie das…

Joachimsen: Das Gesetz sorge dafür, dass bald wieder mehr Arzneimittelproduktion in Deutschland entstehen würde, hat der Bundesgesundheitsminister im vergangenen Jahr angekündigt. Aber so ein Werk zieht man nicht in einigen Wochen oder Monaten hoch – da muss man mindestens 5 Jahre einplanen. Und sie brauchen Planungssicherheit in Sachen auskömmliche, also wirtschaftliche Produktion. Es ist naiv zu glauben, dass es als Exportnation möglich ist, die gesamte Arzneimittel-Produktion insgesamt nach Deutschland zurückzuholen. Insbesondere bei diesen niedrigen Preisen ist das völlig unrealistisch. Wir sollten als erstes dafür sorgen, dass die Firmen, die noch hier sind, nicht auch noch in Schwierigkeiten geraten. Und ja, natürlich gerade bei versorgungskritischen Bereichen wie Antibiotika sollten wir wieder Produktion in Europa ansiedeln.

Lieferengpässe bei Arzneimitteln
Lieferengpässe bei Arzneimitteln. Foto: ABDA

Warum gibt es überhaupt diese Engpässe?

Joachimsen: An dieser Stelle zitiere ich gerne den Bundesgesundheitsminister, der Ende 2022 erklärte, dass man es mit der Ökonomisierung bei der Versorgung mit generischen Mitteln zu weit getrieben habe. Man habe die Preisschraube extrem überdreht! Darauf, dass die einseitige Fixierung auf den günstigsten Preis über die Rabattverträge Versorgungsstrukturen nachhaltig kaputt macht, weisen wir schon sehr lange hin. Und auch der Minister hat dieses Problem tatsächlich verstanden. Sie finden genau diese Argumentation und die Zusammenhänge auf den ersten Seiten des ALBVVG. Das ist erfreulich, da dieser nachweisbare Zusammenhang vor einigen Jahren noch negiert wurde. Aber leider ist dieser Erkenntnisfortschritt nicht in einem wirksamen Gesetz gelandet. Erinnern Sie sich noch an Tamoxifen? Ein Klassiker unter den Brustkrebsmedikamenten, das vergangenes Jahr in die Schlagzeilen kam, weil es nicht mehr verfügbar war. Für eine 3-Monatspackung erhält der Hersteller 8,80 Euro – zu solchen Konditionen können sie kein Krebspräparat in Europa herstellen – und in anderen Regionen der Welt kaum Geld verdienen. Also schrumpft die Zahl der Hersteller –Tamoxifen ist weiterhin auf der Liste der Medikamente mit Lieferproblemen zu finden.

Wie könnte eine Lösung aussehen?

Joachimsen: Wir haben dazu unser „4-3-2-1-Modell“ entwickelt. Demnach sollten für ein Arzneimittel immer mindestens 4 verschiedene Hersteller im Markt sein, von denen wenigstens 3 von den Krankenkassen den Zuschlag erhalten sollten – unter der Voraussetzung, dass mindestens 2 von unterschiedlichen Lieferanten Wirkstoffe beziehen und ein Hersteller maßgeblich in Deutschland oder zumindest in Europa produziert. Außerdem sollten wir bei versorgungskritischen Arzneimitteln ganz auf Rabattverträge verzichten. Dieses Modell von Rabattverträgen wäre nachhaltig, weil es einen gesunden Markt ermöglicht. Momentan sind wir davon weit entfernt.

Damit würde es aber auch teurer werden, oder?

Joachimsen: Es muss teurer werden – wir müssen in der Grundversorgung wieder zu einer Preislandschaft kommen, die es pharmazeutischen Unternehmern erlaubt, mit Arzneimitteln Geld zu verdienen – und kein Minus zu machen. Denn solange Alltagsmedikamente wie Blutdrucksenker, Schmerzmittel oder auch Antibiotika im Durchschnitt 6 Cent kosten, ist Produktion in Deutschland oder Europa schlicht nicht möglich. Und solange wir Hersteller z.B. in einigen Bereichen seit bald 15 Jahren die Preise nicht erhöhen können, während alle anderen Kosten steigen, bleibt Produktion in Deutschland immens schwierig oder unmöglich. Immerhin hatte die Politik durch den Medikamentenmangel erkannt, wie wichtig die Pharmaindustrie für die Versorgung und für Fortschritt, Arbeitsplätze und Wohlstand ist. Auf wirksame Lösungen warten wir aber bislang vergeblich. Wir müssen uns entscheiden, wie wichtig uns die Gesundheit der Menschen ist.

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