
Sich besonders hohe Ziele zu setzen: Das liegt wohl in der DNA der Vision Zero-Initiative. Vertreter:innen aus Wissenschaft, Medizin, Medien, Stiftungen, Verbänden und forschender Industrie haben sich hier zusammengeschlossen, um eines zu erreichen: die Zahl der vermeidbaren krebsbedingten Todesfälle gegen null zu bringen. Prof. Dr. Michael Hallek, Universitätsklinikum Köln, ist einer von ihnen. Und er weiß: Eine starke Krebsmedizin und Forschung sind eine essentielle Stellschraube auf dem Weg zu diesem Ziel. „Wir waren mal vor langen Zeiten die Apotheke der Welt“, erinnerte er sich auf dem Summit. Seitdem sind viele Jahre vergangen; die Welt ist globalisierter geworden. Umso höher ist der Anspruch „Weltmeister“ sein zu wollen. Wie das konkret aussehen könnte? „Ich hätte gerne, dass wir noch mehr junge Firmen nach oben bringen: nicht ein BioNTech, sondern 15 BioNTechs – das wäre die Vision. Mit Produkten, die wir hier generieren, die wir hier produzieren“ – sodass die Wertschöpfung im Land bleibt.
„Forschung schafft Fortschritt“ – aber nicht von allein
Die Voraussetzungen sind gut – die Bundesrepublik hat beispielsweise eine starke Grundlagenforschung. Doch die Translation – also, dass aus den Erkenntnissen der Forschenden auch tatsächlich für die Patient:innen verfügbare Präparate entstehen – müsse verbessert werden. „Forschung schafft Fortschritt, schafft bessere Therapien“, betonte er. Das passiert jedoch nicht von allein – es gibt viel zu tun:
- Das fängt bei Hindernissen an, welche u.a. der deutsche Datenschutz mit sich bringt. Bürokratie schütze nicht nur „vor Willkür“ – zu viel davon kann auch „Leben kosten“, so Hallek.
- Angesichts der Geschehnisse in den USA müsse Europa außerdem nun die Chance ergreifen, „weltbeste Talente“ anzuwerben.
- Gelder dürften nicht nur konsumtiv ausgegeben, sondern auch in kreative, innovative Lösungen für die Patient:innen gesteckt werden. „Wenn wir nur noch verbrauchen und nicht schaffen, was neu ist, werden wir langfristig nicht wettbewerbsfähig sein“, ist der Onkologe überzeugt.
- Zum Thema Prävention sagte Hallek: „Wir wissen eigentlich, was notwendig ist.“ In Schulen, Kitas, Sozialen Medien – da gibt es viele Stellschrauben.
- Forschung und Versorgung könne man besser verknüpfen. Das Stichwort: „wissensgenerierende Versorgung“. Das heißt: In der alltäglichen Praxis werden Daten generiert, die Forschende nutzen, um daraus zu lernen. Welche Patient:innen sprechen zum Beispiel am besten auf innovative Therapien wie Checkpoint-Inhibitoren an?
Luft nach oben: Von der Forschung in die Versorgung

Dr. Niko Andre, Leiter der Onkologie bei AstraZeneca in Deutschland, erklärte: „Forschung, Wissenschaft und Versorgung sind nicht voneinander zu trennen.“ Die Herausforderung sei, dass diese „Systeme“ sehr „isoliert voneinander gewachsen sind“ und nun wieder „zusammenkommen müssen“.
In dieser Hinsicht ist das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) ein „Gamechanger“, wie Prof. Dr. Stefan Fröhling, Geschäftsführender Direktor des NCT in Heidelberg, es nannte. „Es steht uns ganz praktisch gesagt mehr Geld zur Verfügung, um diesen Bogen von der Forschung, über die klinischen Studien, in die Versorgung zu schlagen.“ Das NCT hat 6 Standorte in Deutschland – dort werden Forschung und innovative Krebstherapie eng miteinander vernetzt, sodass Patient:innen frühzeitig Zugang zu vielversprechenden Behandlungsansätzen erhalten können. „So kommen neue Erkenntnisse aus dem Labor schnell an das Krankenbett und umgekehrt fließt neues Wissen aus der medizinischen Versorgung wieder zurück in die Forschung“, heißt es auf der Website. Fröhling betonte allerdings: „Am Ende müssen es die Menschen sein, die den Translationsprozess vorantreiben.“ Forscher und Kliniker seien noch immer „zwei Camps – sie versuchen sich anzunähern“, aber abgeschlossen ist das noch nicht. Der Experte plädierte hier für „einen Kulturwandel“ – und zudem für „eine ganz spezifische Berufsordnung“. So sei der „Physician Scientist“, der in den USA ein sehr anerkanntes Berufsbild ist, hierzulande „noch ein Exot“. Gemeint sind Mediziner:innen, die Patient:innen behandeln und gleichzeitig in der wissenschaftlichen Forschung tätig sind.
Andre, AstraZeneca, ergänzte: „Wenn wir keine führende Wissenschaft haben, die Innovationen voranbringt, haben wir langfristig ein Problem.“ Gerade die „Industrie funktioniert global“: Daraus ergibt sich „eine Dringlichkeit“ für Deutschland, seine „großartigen Möglichkeiten“, seine „nach wie vor sehr starke Grundlagenforschung und ausgezeichnete Medizin-Versorgung“ für „eine Positionierung“ mit „Weltmeisteranspruch“ zu nutzen.
Datenschatz versus German Angst

Mehr Digitalisierung ist hierbei entscheidend. Aus Sicht von Peter Schardt, Technologiechef von Siemens Healthineers, ist Voraussetzung, dass verschiedene Datenquellen – etwa aus Pathologie, Bildgebung, Genomsequenzierung und von den Patient:innen selbst – besser zusammengeführt werden. „Die Daten, die erforderlich sind, um Künstliche Intelligenz (KI) zu trainieren, sind immer noch nur in Silos verfügbar.“ Und sie liegen oftmals zu unstrukturiert vor – große Sprachmodelle könnten beispielsweise Arztbriefe in strukturierte, nutzbare Informationen bringen.
Johannes Förner, Patientenbeirat Krebsforschung beim Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ), verwies auf den Begriff „German Angst“, der vor allem in den USA geläufig sei: „Es ist ein Teil eines Chromosoms in der deutschen DNA – der Deutsche hat Angst vor Missbrauch seiner Daten“. Bei der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) wurden „leider 98 sogenannte Erwägungsgründe angebracht – das heißt, in 98 Passagagen der DSGVO dürfen EU-Mitgliedsländer davon abweichen und eigene Richtlinien stricken.“ Deutschland habe es – im Vergleich zu anderen Nationen – „massiv übertrieben und alle 98 ausgenutzt“. Die Folge: Länder wie Spanien haben einen Wettbewerbsvorteil – die Gesundheitsdaten der Patient:innen von heute und morgen können dort besser für beispielsweise die Forschung genutzt werden.
„Wir sitzen auf einem Datenschatz, der uns gehört, der solidarisch entstanden ist“, so Hallek. Und der werde bisher zu wenig genutzt. Ist das Problem vor allem politik-gemacht? Hallek jedenfalls sagte: „Die Schutzrechte der einzelnen Personen sind wichtig – aber die meisten Bürger würde ihre Daten der Gemeinschaft zur Verfügung stellen“.

Der potenzielle Nutzen ist schließlich enorm – für die Prävention, Früherkennung und Therapie der Patient:innen der Gegenwart und Zukunft. „Ich persönlich bin fasziniert, welche Fortschritte die Forschung heute erbringt, in welcher Dynamik das Wissen über Krebs […] weiter entsteht. Aber es wird immer spezialisierter. Wir brauchen neue Technologien wie KI, um dieses Wissen zusammenzuführen und verfügbar zu machen“, ist Schardt überzeugt.
Zum Abschluss der Diskussionsrunde plädierte Kira Tosberg, Wiss. Vorstandsreferentin beim Aktionsbündnis Patientensicherheit: „Es ist immer wieder eine bewusste Entscheidung, Veränderung voranzubringen und sich nicht von Frust […] abhalten zu lassen, das System verbessern zu wollen“.
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Krebs: Patient:in zu werden ist nicht schwer…
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Krebs: Eine Revolution anzetteln
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