
Weil immer bessere, zielgerichtete Arzneimittel entwickelt werden, fürchtet der SVR um die finanzielle Stabilität der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV): „Es ist absehbar, dass der medizinisch-technische Fortschritt für zunehmend mehr Patient:innen innovative Arzneimittel hervorbringen wird.“ Damit könnten „zuvor häufig tödliche Erkrankungsverläufe vermieden werden.“ Außerdem rechnet das Gremium damit, dass „hochpreisige Einmaltherapien“ künftig eine stärkere Bedeutung bekommen. „Die damit verbundenen größeren Chancen auf Heilung oder auf deutliche Linderung von Krankheiten verschärfen jedoch den Zielkonflikt zwischen bedarfsgerechter Versorgung, Innovationsanreizen und nachhaltiger Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems.“ Es drohe eine Überforderung des Systems, heißt es in dem Gutachten mit dem Titel: „Preise innovativer Arzneimittel in einem lernenden Gesundheitssystem“. Wird eine eigentlich richtig gute Nachricht – bessere Medizin für alle – zum Problem? Der durch die Hersteller verursachte Kostenanteil an den Gesamtausgaben der GKV liegt bei ungefähr sieben Prozent. Aus diesem Beitrag soll die GKV saniert werden?
Interimspreise statt freier Preisbildung in den ersten sechs Monaten nach dem Inverkehrbringen, gedeckelte Arzneimittelbudgets, bei deren Überschreitung automatische Preisabschläge greifen, die Abschaffung der Orphan Drug Regelung im AMNOG – eine Regelung, die dazu führt, dass mittlerweile ein Drittel der im Jahr neu eingeführten Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen sind: In dem Gutachten wird schweres Geschütz aufgefahren. Wie die Umsetzung der von der Ampelregierung gestarteten Nationalen Pharmastrategie, mit der die pharmazeutische Industrie zur Schlüsselindustrie geadelt wurde, und zu der sich auch die neue Regierung bekannt hat, liest sich das nicht.
Hervorragende Versorgung mit Arzneimittelinnovationen

Deutschland hat immer noch eine hervorragende medizinische Versorgung mit Arzneimittelinnovationen, die bei den Menschen so schnell ankommt, wie in keinem anderen Land Europas. Ein Naturgesetz ist das übrigens nicht. Es liegt an den richtigen Weichenstellungen: Ein Grund dafür ist, dass hierzulande ein Medikament erst eingeführt und dann über den Erstattungsbetrag verhandelt wird – das ist in vielen Ländern anders. Das Unternehmen kann den Preis zunächst selbst bestimmen, der aber nur für sechs Monate gilt, weil dann nach dem Ergebnis des AMNOG-Verfahrens abgerechnet wird. Im Gutachten heißt es: „Auch wenn dieser Initialpreis kein Kriterium der Preisverhandlungen sein sollte, hat er eine psychologische Ankerwirkung. Der Rat empfiehlt, einen extern festgelegten Interimspreis einzuführen, der sich – bis auf begründete Ausnahmen – an den Kosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie (zVT) orientiert. Der Initialpreis soll auf die Höhe des Interimspreises abgesenkt werden.“ Und wenn diese Vergleichstherapie ein „alter Hut“ ist und entsprechend wenig kostet: Hat das dann keine „psychologische Ankerwirkung“? Die Interimspreise, wie sie der SVR wünscht, werden eher niedrig sein. Ein niedriger deutscher Preis führt zu Preissenkungen in ganz Europa. Also könnte es sein, dass die Hersteller ihre Produkte hier nicht mehr zuerst in Deutschland einführen. Gute Versorgung ist kein Naturgesetz, sondern das Ergebnis guter Rahmendbedingungen. Nur am Rande: Die Preise für Arzneimittelinnovationen, über die sich viele aufregen, sind in Deutschland seit Einführung des AMNOG verhandelte Preise und insofern von den Krankenkassen konsentiert.
Das AMNOG-Verfahren wurde im Jahr 2011 aus der Taufe gehoben. Es sorgt für milliardenschwere Entlastungen zu Gunsten der GKV: „Über alle Therapiegebiete hinweg belaufen sich die Preisdifferenzen zwischen Listenpreis und Erstattungsbetrag im ungewichteten Mittelwert auf 23 Prozent“, heißt es in dem vom Pharmaverband BPI herausgegebenen AMNOG-Daten. In der Onkologie, bei der die Kostenentwicklung durch die Verfügbarkeit immer gezielter wirkender Präparate besonders kritisch beäugt wird, waren Rabatte zwischen 2 und 50 Prozent drin. Will sagen: Aus Sicht der Kostenträger funktioniert das AMNOG eigentlich. Rund 45 Milliarden Euro hat es seit Bestehen an Einsparungen gebracht und allein in diesem Jahr werden es rund 12 Milliarden Euro sein. Dass es weiterentwickelt werden muss, betont die Industrie schon seit langem, nur eben nicht so, wie es der Rat vorschlägt. Denn das Kernproblem liegt ganz woanders: Die Methodik der Evidenzgenerierung läuft dem medizinischen Fortschritt hinterher. Dass das AMNOG immer öfter mal keinen oder keinen belegten Zusatznutzen feststellt, liegt auch daran, dass eine pharmazeutische Neuheit von heute auf eine Methodik von gestern trifft.
Preisinstrumente: Das Ende der Planbarkeit

Das AMNOG ist bei weitem nicht das einzige Preissenkungsinstrument: Unter anderem kommen noch ein Herstellerrabatt, ein Preismoratorium oder Rabattverträge dazu. Und die im GKV-Finanzstabilisierungsgesetz erfunden Knebel wie die so genannten AMNOG-Leitplanken, die inkrementellen, also schrittweisen Fortschritt preislich diskriminieren, sowie der zusätzlich eingeführte 20-prozentige Abschlag auf Kombinationspräparate, die auf die bereits ausgehandelten Rabatte noch draufkommen, sind nicht gerade Maßnahmen eines Systems, das den Wert und den gesamtgesellschaftlichen Nutzen von Arzneimittelinnovationen honorieren will.
Wegen ihrer langen Entwicklungszeiten fordern Pharmafirmen seit Jahren stabile Rahmenbedingungen. Würde der Katalog des SVR umgesetzt, stehen die Unternehmensleitungen vor – gelinde gesagt – einigen Herausforderungen: Das neu entwickelte Medikament wird preislich mit einem „extern festgelegten Interimspreis“ eingeführt, von dem vom ersten Tag sieben Prozent Herstellerrabatt abgehen. Das AMNOG-Verfahren folgt mit Preisabschlägen von weiteren rund zwanzig Prozent, wenn wir den Mittelwert der vergangenen Jahre berücksichtigen. Wenn das Unternehmen „Glück“ hat, ist es ein Kombinationspräparat, bei dem nach einem langen Prozess – die Umsetzung allein dieser Maßnahme ist ein Bürokratiemonster – weitere zwanzig Prozent fällig werden. Sollte der vom SVR vorgeschlagene Arzneimittelpreisdeckel kommen, folgen schwer planbare prozentuale Abschläge am Ende des Jahres. Und schließlich will der Rat Preisanpassungen im Zeitverlauf vornehmen: Wie wohl unter diesen Bedingungen eine seriöse Finanzplanung möglich sein soll? Das ist wohl das Ende der Planbarkeit und wird Folgen für die Versorgung der Menschen mit neuen Arzneimitteln haben.
Die forschende Pharmaindustrie als Schlüsselsektor?

Die Politik hat die pharmazeutische Industrie als Schlüsselfaktor identifiziert, um die Transformation der deutschen Wirtschaft zu unterstützen; sie ist damit Teil einer Wachstumsstrategie. Pharma ist wissens- und innovationsgetrieben, ist krisenfest, schafft hochwertige Arbeitsplätze, sorgt für Gesundheit und Wohlstand. Doch Innovationen brauchen Raum – und der wird mit den vorgeschlagenen Preismechanismen empfindlich gestört. Auch im Hinblick auf die geopolitische Lage ist die Frage angebracht, ob das Sinn macht: Die USA schaffen gerade ihre Wissenschaft ab und Europa hat zu Recht erklärt, die medizinische Forschung stärken zu wollen. Mit Vorschlägen, wie man die Preise für Innovationen herunterschraubt, wird das nicht gelingen.
Die SVR-Analyse von der „Überforderung des Systems“ kommt zur falschen Zeit. Solange die Reformen des „Systems GKV“ nicht oder nur verhalten angegangen werden, solange sich Deutschland einen Organismus leistet, der lieber therapiert als Krankheiten vermeidet, solange Bürokratie und schleichende Digitalisierung für Ineffizienzen epischen Ausmaßes sorgen, können wir eine Frage sicher nicht beantworten: Ob wir uns den Fortschritt leisten können. Denn Geld ist da. Aber offensichtlich geben wir es nicht richtig aus?
Oder um es anders zu formulieren: Das System ist längst überfordert. Das liegt aber nicht an den Ausgaben für Arzneimittel, sondern an der mangelnden Kraft, es sinnvoll zu reformieren.
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