
Das Minus? Höher ausgefallen als erwartet. Die Aussichten? Mau. Die Herausforderungen? Riesig. Ein Gesundheitssystem im Reformstau, die Finanzierung unsicher, an Bürokratie zu viel, an Digitalisierung zu wenig: Chef einer Krankenkasse zu sein, dürfte momentan wenig mit purem Vergnügen zu tun haben.
Übrigens genauso wenig wie die Entwicklung von Arzneimitteln mit „reiner Nächstenliebe“ zu tun hat. Der Kassen-Manager hatte im Interview gesagt, ihn ärgere, wenn sich die Pharmafirmen darstellten, „als arbeiteten sie aus reiner Nächstenliebe.“ Gäbe es tatsächlich Pharmamanager:innen, die so etwas sagen, hätten sie ihr eigenes Geschäftsmodell nicht im Griff. Denn nur wirtschaftlich erfolgreiche Unternehmen können das „Abenteuer Arzneimittelentwicklung“ angehen, nur solche Firmen haben den notwendigen langen Atem. Wir leben in Zeiten eines medizinischen Innovationsbooms. Getrieben wird er von unternehmerischem Mut, der Lust, die Grenzen der Medizin in Frage zu stellen, einer knallharten Orientierung an Wissenschaft und Fakten. Und von Geld. Wäre „pure Nächstenliebe“ der entscheidende Treiber, sähe der medizinische Fortschritt deutlich ärmlicher aus: Nächstenliebe allein finanziert keine Forschung (s. „Die Risiken und Nebenwirkungen der Pharmaindustrie“). Forschende Pharmaunternehmen sind Privatunternehmen. Nur, wenn sie gewinnorientiert arbeiten, können sie das tun, was sie am besten können: Die Arzneimittel von Morgen entwickeln. Diese gewinnorientierte Arbeit ist segensreich: Die Kindersterblichkeit sinkt seit Jahren, HIV ist eine chronische Erkrankung, Hepatitis C heilbar. Der Kampf gegen Krebs wird immer besser – die Forschung ist der Schlüssel dazu.
Pharmaunternehmen: Gewinne für den medizinischen Fortschritt

„Gewinne von 30 oder 40 Prozent“ seien „obszön“, so Jens Baas in dem Interview. Was er damit wahrscheinlich meint, sind Umsatzrenditen. Dass kapitalintensive Branchen – dazu gehört die forschende Pharmaindustrie – hohe Renditen brauchen, um erfolgreich zu bestehen, ist zwar gut für den Aufreger bei der Medienlektüre. Doch Ökonom:innen sind da deutlich entspannter: Sie wissen, dass Umsatzrenditen für die Beurteilung des langfristigen Erfolgs eines Unternehmens wenig geeignet sind. Sie wissen, dass es komplexe Zusammenhänge zwischen verschiedenen Renditemaßzahlen gibt und dass alle seriösen wissenschaftlichen Studien zeigen, dass die Kapital-Renditen der Pharmaindustrie „normal“ sind (s. „Verdient die Pharmaindustrie, was sie verdient?“). Aber warum sich mit dieser Komplexität rumschlagen, wenn sich mit der selektiven Auswahl von Daten so schön Emotionen erzeugen lassen? Apropos Gewinne: Es gibt auf dieser Welt wenige Branchen, deren Anteil an in Forschung reinvestierten Nettoumsätze so hoch ist.
Dass die Krankenkassen gern großzügig mit Zahlenmaterial umgehen, darauf haben wir hier schon öfter hingewiesen. Ende 2024 hatte das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) behauptet, dass die Ausgaben für Arzneimittel zwischen 2014 und 2023 um 74 Prozent gestiegen seien. Die Zahl ist nicht inflationsbereinigt und deshalb unseriös; am Ende bleiben 40 Prozent übrig. Was nach „Kostenexplosion“ aussieht, ist keine. Im gleichen Zeitraum sind die GKV-Gesamtausgaben sogar etwas mehr gestiegen (s. Arzneimittelausgaben 2025: „Same procedure, James“).
Arzneimittelpreise: Verhandlungslösung zwischen Kassen und Unternehmen
Gegen eine gewinnorientierte Pharmabranche habe er gar nichts, erklärte Jens Baas in dem Interview; er fordere nur, „dass wir Krankenkassen auf Augenhöhe mit den Pharmaherstellern über die Preisfindung reden und die Gegenseite nicht damit drohen kann: Na gut, dann bekommen die Menschen in Deutschland halt das Krebsmedikament nicht.“ Mit der Materie nicht vertrauten Leser:innen wird suggeriert, dass Pharmaunternehmen selbst den Preis ihrer Präparate festlegen können und dass die Kassen dies einfach schlucken müssen. Das Gegenteil ist der Fall: Eine freie Preisbildung (minus aktuell sieben Prozent Herstellerrabatt vom ersten Tag an) gibt es nur für die ersten sechs Monate. Dann gilt ein mit dem Spitzenverband der Krankenkassen auf Basis des Zusatznutzenverfahrens AMNOG ausgehandelter Preis. Die Krankenkassen beschweren sich also in aller Regel über Erstattungsbeträge, die ihr Verband für sie ausgehandelt hat. Das ist irgendwie bizarr. Auch die Vorstellung, dass forschende Pharmaunternehmen leichtfertig lebenswichtige Arzneimittel als Erpressungsmaterial für höhere Preise nutzen, ist einigermaßen abenteuerlich und durch keinerlei Fakten gedeckt.
Das Problem von Herrn Baas und seinen Kolleg:innen sind nicht die Arzneimittelausgaben, die übrigens als Anteil an den GKV-Gesamtausgaben seit Jahrzehnten stabil sind. Ihr Problem ist ein GKV-System im Reformstau und die Tatsache, dass die GKV in Teilen zu einem Verschiebebahnhof von Sozialleistungen verkommen ist – die Kassen sind gezwungen, Leistungen zu bezahlen (die so genannten versicherungsfremden Leistungen), die dort aus politischer Opportunität hin verlagert wurden. Das zu korrigieren, hatte sich schon die Ampelregierung vorgenommen. Es ist dringend Zeit, dass das nun passiert – auch aus Gründen der politischen Hygiene: Dass das GKV-System als maßgebliche Säule der sozialen Sicherung in der Öffentlichkeit an die Wand geredet wird, wird das Vertrauen in einen funktionierenden Staat weiter untergraben.
Vom Innovationszyklus profitieren alle

Der Innovationszyklus der forschenden Pharmaindustrie ist einfach beschrieben. Mit den Einnahmen von heute wird die bessere Medizin von Morgen und Übermorgen möglich. Von den Ergebnissen aus Forschung und Entwicklung (F&E) profitieren alle: Kranke Menschen und ihre Angehörigen, der Medizinbetrieb, der eine bessere Versorgung anbieten kann, die Forschung, die auf der Höhe der Zeit bleibt und selbst Spitzenforschung betreiben kann. Außerdem profitieren die Sozialsysteme, die Wirtschaft, der Wirtschaftsstandort. In der Nationalen Pharmastrategie, die Ende 2023 auf den Weg gebracht wurde, ist das erkannt. Sie will die industrielle Gesundheitswirtschaft stärken, F&E fördern. Das macht aber nur Sinn, wenn man die Produkte dieses Prozesses, die Arzneimittelinnovation, nicht als „Kostenproblem“ sieht. Und eine Stellvertreterdiskussion vom Zaun bricht, die mit den Ursachen der Problematik nichts zu tun hat (s. „It´s the Gesundheitswirtschaft, stupid“). Man kann es nicht oft genug sagen oder schreiben: Die Ausgaben für Arzneimittel sind für die Krankenkassen nicht das Problem. Ihr Problem ist ein in die Jahre gekommenes, in Teilen ineffizientes Gesundheitssystem, das viel mehr Geld verschlingt, als es müsste.
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Arzneimittelausgaben 2025: „Same procedure, James“
Das Jahr 2025 beginnt wie 2024: Die Finanzen der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) sind desolat, nachhaltige Strukturreformen dringend angemahnt. Doch es ist wie bei „Dinner for One“: Alles wiederholt sich. Hier ist es das Nicht-Umsetzen von bereits seit Jahren identifizierten Reformprojekten. Deshalb ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Deckelung von Arzneimittelpreisen wieder auf die politische Agenda kommt: Same procedure halt. Ein Kommentar von Florian Martius.

Die Risiken und Nebenwirkungen der Pharmaindustrie
Es ist ein bekannter Vorwurf: Verdient „Big Pharma“ (zu viel) Geld mit dem Leiden der Menschen? Steht Profit über Gesundheit? Jüngst hatte sich ZDFheute diesem Thema gewidmet. Und nun hat das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) eine Pressemeldung veröffentlicht, die suggeriert: Die Ausgaben für Arzneimittel bringen das Solidarsystem an seine Grenzen. Pharma-Fakten.de hat dazu einen Backgroundcheck gemacht.

Verdient die Pharmaindustrie, was sie verdient?
Die pharmazeutische Industrie gilt als profitabel. Zu profitabel, wie ihre Kritiker finden. Darüber, ob es ethisch zulässig ist, mit den Krankheiten der Menschen Geld zu verdienen und ob die pharmazeutische Industrie verdient, was sie verdient, sprachen wir mit Oliver Kirst, Geschäftsführer des forschenden französischen Pharmaunternehmens Servier Deutschland.