
„Wir stehen an einem historischen Wendepunkt, was das Management der Alzheimer-Krankheit angeht“, schreiben EFPIA und EBC in ihrem gemeinsamen Papier „Rethinking Alzheimer’s Disease Pathway: From Diagnosis to Care“. Denn „neue Therapien werden in verschiedenen Ländern verfügbar. Zum ersten Mal in der Geschichte bringt die Wissenschaft neue, potenziell krankheitsmodifizierende Behandlungen für verheerende Krankheiten wie Morbus Alzheimer hervor.“ Damit verändert sich Schritt für Schritt die Sichtweise auf die Alzheimer-Krankheit – weg von einem unveränderlichen Schicksal, hin zu neuen Perspektiven.
Der Grund: Forschung und Innovation – und das nicht nur bei der Therapie. „Unser wachsendes Verständnis von der Erkrankung und der Einzug von Biomarkern […] haben bereits die Art und Weise, wie wir Morbus Alzheimer diagnostizieren, revolutioniert. Das hat tiefgreifende Implikationen für die Behandlung – denn frühe Diagnosen eröffnen Zeitfenster, um in die Krankheit eingreifen zu können.“
Mehr als 20 Jahre lang gab es trotz intensiver Forschungen keine Neuzulassungen im Bereich der Alzheimer-Behandlung. In der EU liegen momentan Anträge für zwei neue, monoklonale Antikörper vor – in den USA sind sie bereits zugelassen. Laut Studien können sie das Fortschreiten der Erkrankung deutlich bremsen. Im vergangenen Jahr erklärte Jörg Schaub vom Arzneimittelunternehmen Lilly Deutschland im Pharma Fakten-Interview: „Nein, es ist keine Heilung, aber es ist hoffentlich ein großer Schritt in diese Richtung.“ Es gehe darum, den „Menschen und ihren Familien mehr Zeit [zu] geben, Dinge zu tun, die für sie von Bedeutung sind – etwa, weil sie länger selbständig bleiben können. Und vielleicht könnten sie auch wertvolle Zeit gewinnen, denn schließlich geht die Forschung in hohem Tempo weiter – und damit steigt hoffentlich die Chance, diese Erkrankung immer besser behandeln zu können.“ 127 Wirkstoffkandidaten in 164 klinischen Studien sind Gegenstand der Forschung (Stand: 1.1.2024), heißt es im Bericht von EFPIA und EBC.
Alzheimer-Therapie: Das Gesundheitssystem muss sich verändern

Doch Arzneimittel allein können es nicht richten. Denn die Gesellschaft, die Gesundheitssysteme müssen mit dem medizinischen Fortschritt mithalten, sollen Patient:innen auch tatsächlich von Innovationen profitieren. Was bringen neue Therapeutika, wenn sie es nicht (rechtzeitig) zu allen Menschen schaffen, die sie benötigen? EFPIA und EBC sehen Handlungsbedarf – es braucht „adäquate politische Rahmenbedingungen“, damit Wissenschaft nicht reine Wissenschaft bleibt – sondern das Leben der Betroffenen und Angehörigen verändert.
Für politische Entscheidungsträger:innen haben EFPIA und EBC in ihrem Papier acht konkrete Handlungsempfehlungen erarbeitet:
- Alzheimer-Erkrankung und Hirn-Gesundheit national, europa- und weltweit zu einer Priorität der öffentlichen Gesundheit machen: So solle etwa die EU-Kommission „Demenz-Strategien“ der Mitgliedsländer „koordinieren“ und mit entsprechenden finanziellen Mitteln versehen.
- Beschäftigte im Gesundheitswesen aus- und weiterbilden und sie sowie Bürger:innen für das Thema sensibilisieren: Fachpersonal muss fortlaufend auf dem aktuellen Stand bei Diagnose und Behandlungsoptionen gehalten werden; auch braucht es u.a. verstärkte Aufklärung der Bevölkerung – über Themen wie die Unterschiede zwischen Morbus Alzheimer und Demenz.
- Daten, Informationsaustausch und entsprechende Technologien zu Nutze machen: Elektronische Patientenakten beispielsweise könnten den Datenaustausch im Sinne einer optimierten Versorgung verbessern.
- Zugang zu Innovationen verbessern: Es muss sichergestellt sein, dass alle Betroffenen eine bestmögliche Versorgung erhalten – unabhängig von ihrem sozioökonomischen Status. Dazu gehört nicht nur das Thema Finanzierung und Erstattung – es ist auch eine Frage der Kapazitäten: Nur mit ausreichend Personal und Ressourcen lassen sich Therapien durchführen und monitoren.
- Genügend finanzielle Mittel für Forschung und Infrastruktur sicherstellen: Es bedarf z.B. mehr Förderung für klinische Alzheimer-Studien in Europa.
- Bevölkerung und Patient:innen involvieren: Ein Ansatzpunkt wäre, Menschen mit Morbus Alzheimer in das Design klinischer Studien stärker einzubeziehen – sodass diese patientenzentriert, gut zugänglich und inklusiv sind.
- Multidisziplinär denken: Für eine umfassende Versorgung der Betroffenen müssen u.a. Spezialist:innen aus Neurologie, Radiologie, Pflege, Psychologie, Geriatrie, Ernährungswissenschaft und Allgemeinmedizin als Team zusammenarbeiten. Die Telemedizin könnte dazu beitragen, dass gerade auch in abgelegenen Wohngegenden regelmäßige Arztgespräche möglich sind.
- Post-diagnostische Behandlungspfade über Leitlinien definieren und mit entsprechenden Geldern versehen: Das Festlegen bestimmter „Behandlungspfade“ trägt dazu bei, dass die Menschen wirklich alle Stationen im Gesundheitssystem durchlaufen, die sie für eine optimale Versorgung benötigen – und zwar in allen Ländern.
Neue Ära der Alzheimer-Therapie: Jetzt vorbereiten

Einfach warten, bis immer mehr, neue Alzheimer-Therapien verfügbar sind – und der Rest kommt dann schon von allein? So funktioniert das nicht. Ändert sich im System nichts, könnten vielen Betroffenen Innovationen aus strukturellen Gründen verwehrt bleiben: So weiß die Medizin heutzutage zwar von bestimmten Biomarkern – also biologischen Merkmalen im Körper – welche eine frühe Diagnostik unterstützen können. Doch realisierbar ist das nur, wenn in der Primärversorgung ausreichend Kapazitäten für die Früherkennung geschaffen werden. Und auch für die Zeit nach der Diagnose fehlen bislang wichtige Dinge – die Anzahl an Alzheimer-Zentren ist ungenügend, es gibt gerade in ländlichen Gegenden zu wenige Fachärzt:innen, um neue Therapien allen anbieten zu können; psychosoziale Unterstützungsangebote sind zu wenig oder gar nicht vorhanden.
„Die Gesellschaft wird in den kommenden 10 Jahren einen tiefgreifenden Wandel erfahren“, so EFPIA und EBC, „und die Gesundheitssysteme werden sich darauf einstellen müssen, dass sie für diesen wissenschaftlichen und kulturellen Wandel adhoc Ressourcen bereitstellen müssen – für schnelle Diagnosen, Behandlungsmöglichkeiten und Präzisionsmedizin“. Letztlich ist es nicht nur eine Frage von Gesundheit, sondern auch von Gerechtigkeit – auf dem Spiel steht momentan, ob künftig alle Alzheimer-Betroffenen in Europa gleichermaßen von Innovationen profitieren werden.
Und es ist auch einer Frage der Wirtschaft: EFPIA und EBC verweisen in ihrem Papier auf den Begriff „Brain capital“ – er meint die Hirn-Gesundheit und die hirnbezogenen Fähigkeiten einer Bevölkerung, welche wichtige Wachstumsfaktoren einer Gesellschaft darstellen. „Bei Menschen mit Alzheimer das Fortschreiten der Erkrankung zu verzögern: Das ermöglicht es ihnen, länger am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, Kosten der Gesundheitssysteme zu senken und die regionale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken“.
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